Der Kaffeehaendler - Roman
Schurke in Amsterdam zu bleiben, hätte Alonzo ebenso gut woanders hingehen, seinen Namen ändern, sich in einer auswärtigen Gemeinde niederlassen können. Es gab auch außerhalb Amsterdams Juden, und Miguel musste nicht hier bleiben. Doch der Cherem würde mehr bedeuten, als die Entscheidung, anderswo als Jude oder in Amsterdam als Verfemter
zu leben. Wenn er die Stadt verließ, hieß das, dass er seine Pläne mit dem Kaffeehandel aufgeben und auf das Geld verzichten musste, das Ricardo ihm schuldete. Wenn er blieb, würden seine Gläubiger, darunter zweifellos auch sein scheinheiliger Bruder, sich auf ihn stürzen und ihn ausplündern. Selbst wenn er in eine andere Stadt zog, wovon sollte er dort leben? Ein Kaufmann ohne Verbindungen war kein Kaufmann. Sollte er als Hausierer einen Karren durch die Straßen schieben?
Miguel konnte seinen Weg zur Talmud-Thora unbeobachtet zurücklegen. Um diese Stunde begann die Vlooyenburg eben erst zu erwachen, und obwohl er die frühmorgendlichen Rufe der Milchmänner und Bäcker hörte, überquerte er als Einziger die Brücke, nur zwei Bettler, die dasaßen und einen Laib altbackenen, mit Schlamm bespritzten Brotes aßen, beäugten Miguel argwöhnisch.
Der Ma’amad hielt seine Zusammenkünfte im selben Gebäude ab, in dem sich die Synagoge befand, doch ein separater Eingang führte in seine Gemächer. Am oberen Ende einer Wendeltreppe trat Miguel in den kleinen, vertrauten Raum, wo Bittsteller auf ihre Vorladung warteten. Entlang der Wand mit den halbrunden Fenstern, die das Licht des frühen Morgens in das Zimmer sickern ließen, das stark nach Moder und Tabak roch, waren einige Stühle aufgestellt.
Heute Morgen wartete niemand außer Miguel, was für ihn eine Erleichterung war. Er verabscheute es, Konversation mit anderen Büßern zu machen, die sich ihren Groll von der Seele reden wollten und die Situation verharmlosten. Es war besser, allein zu warten. Er lief hin und her und spielte in Gedanken eine Möglichkeit nach der anderen durch: völlige Entlastung, Exkommunikation und alle denkbaren Varianten von beiden.
Zum Schlimmsten würde es nicht kommen, sagte er sich. Er hatte sich dem Zorn des Rats immer entzogen. Und dann war
da noch Parido – Parido, der gewiss nicht Miguels Freund war, der aber etwas von ihm wollte. Parido, der seit langem genug wusste, um Miguel zu vernichten, und es nicht getan hatte. Warum sollte er plötzlich Interesse daran haben, Miguel verbannen zu lassen?
Er wartete fast eine Stunde, ehe sich die Tür endlich öffnete und er in das Gemach gerufen wurde. An einem Tisch am anderen Ende des Raumes saßen die sieben Männer, die Recht sprechen würden. An der Wand hinter ihnen hing das prächtige Marmorsymbol der Talmud-Thora: ein gewaltiger Pelikan, der seine drei Jungen fütterte; ein Symbol dafür, dass die Gemeinde sich vor einigen Jahren aus kleineren Synagogen gebildet hatte. Der Raum spiegelte mit seinem dicken indischen Teppich, den kunstvollen Porträts ehemaliger Parnassim und einer Elfenbeintruhe, in der Aufzeichnungen verwahrt wurden, den Reichtum der Elite der hiesigen Juden wider. Die Männer saßen hinter einem massiven, dunklen Tisch und wirkten zugleich feierlich und fürstlich. Um Parnass zu sein, war ein gewisser Reichtum notwendig, um sich wie ein Parnass kleiden zu können.
»Senhor Lienzo, danke, dass Sie der Vorladung gefolgt sind.« Die ernste Stimme von Aaron Desinea, der den Ältestenrat leitete, hatte einen schalkhaften Unterton. »Bitte.« Er deutete auf einen schmalen, zu kleinen Stuhl in der Mitte des Raumes, auf dem Miguel während des Verhörs durch den Rat sitzen sollte. Der Stuhl wackelte, da eines seiner Beine kürzer war als die anderen. Es war weitaus mehr Konzentration nötig, als Miguel aufbringen konnte, um nicht zu kippeln.
Desinea, hoch in den Siebzigern, war der älteste der Parnassim und wirkte fast schon wie ein Greis. Sein Haar, früher würdevoll grau, war jetzt krankhaft weiß und spröde wie welkes Laub. Sein Bart war fleckig und schütter, und es war allgemein bekannt, dass seine Sehkraft nachgelassen hatte. Auch
jetzt starrte er an Miguel vorbei, als hielte er in der Ferne Ausschau nach einem Freund. Aber Desinea hatte dem Ältestenrat schon oft für eine dreijährige Amtszeit angehört, war dann die erforderlichen drei Jahre ausgeschieden und anschließend stets wiedergewählt worden.
»Sie kennen alle Anwesenden, deshalb verzichte ich auf das Vorstellen. Ich werde die Anschuldigungen
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