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Der Kaffeehaendler - Roman

Der Kaffeehaendler - Roman

Titel: Der Kaffeehaendler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Liss Almuth Carstens
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fragte er sich. Hatte sein Bruder ihn denn so gut behandelt, dass er diese verbotene Frucht seiner Gastfreundschaft nicht pflücken durfte? Ehebruch war gewiss eine große Sünde, doch seiner Meinung nach entstanden Regeln wie diese aus der Notwendigkeit, in Familien die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Sünde bestand nicht darin, mit der Frau eines anderen Mannes zu schlafen, sondern sie zu schwängern. Da dies nicht passieren konnte, wäre es keine Sünde, sie hier auf dem Fußboden des Wohnzimmers zu nehmen.
    Und so beugte er sich vor, um sie zu küssen, um endlich ihre Lippen zu spüren. Genau in dem Augenblick, da er sie enger an sich ziehen wollte, überfiel ihn ein düsterer Gedanke. Er wusste mit absoluter Klarheit, was geschehen würde, wenn er sie küsste. Würde sie imstande sein, in das Bett ihres Ehemannes
zurückzukehren, ohne ihm zu offenbaren, was vorgefallen war? Dieses arme, missbrauchte Mädchen – sie würde ihn auf tausendfache lautlose Weise verraten, ehe ein Tag verstrichen war.
    Er trat einen Schritt zurück. »Senhora«, flüsterte er, »es darf nicht sein.«
    Sie biss sich auf die Lippen und schaute hinunter auf ihre Hände, die so heftig an ihrem Schal zerrten, dass sie ihn fast zerrissen hätte. »Was darf nicht sein?«, fragte sie.
    Dann heucheln wir eben, stimmte Miguel wortlos zu. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, während er einen weiteren Schritt zurücktrat. »Ich scheine etwas missverstanden zu haben. Bitte vergeben Sie mir.« Er eilte aus dem Zimmer in den dunklen Flur, um sich stolpernd in den Keller zu tasten.
    Dort, in der Feuchtigkeit und Finsternis, saß er stumm und lauschte auf ein Zeichen von ihr, doch er hörte nichts, nicht einmal das Knacken von Dielenbrettern. Soweit er wusste, war sie reglos sitzen geblieben, ihr Haar dem leeren Raum preisgegeben. Und seltsamerweise verspürte Miguel auf seinem eigenen Gesicht die Nässe von Tränen. Liebe ich sie so sehr? Vielleicht tat er das, doch er weinte nicht aus Liebe.
    Er weinte nicht, weil sie traurig war oder er traurig war, sondern weil er wusste, dass er grausam gewesen war, dass er sie an etwas hatte glauben lassen, das, wie er stets gewusst hatte, unmöglich war. Er hatte seiner Fantasie freien Lauf gelassen, ohne daran zu denken, dass sie daran zerbrechen könnte. Er war herzlos gewesen zu einer beklagenswerten Frau, die nichts anderes getan hatte, als freundlich zu ihm zu sein. Er fragte sich, ob er auf allen anderen Gebieten wohl auch so ungeschickt gewesen war.

31
    Kurz vor Mittag wuchs die Erregung auf dem Dam vor der Börse. Zwei Wochen waren seit Miguels Gespräch mit Geertruid vergangen. Heute war Abrechnungstag, und heute wurden Miguels Investitionen fällig. Er stand in der Menge, darauf wartend, dass die großen Tore sich öffneten, und überflog die Gesichter in seiner Umgebung: angestrengtes Starren in die Ferne. Holländer, Juden und Fremde gleichermaßen bissen die Zähne zusammen und zeigten eine kriegerische Wachsamkeit. Jeder, der genug Zeit an der Börse verbracht hatte, witterte es, wie den Geruch nahenden Regens. Große Pläne harrten ihrer Umsetzung, die den gesamten Handel beeinflussen würde. Jeder Abrechnungstag war spannungsgeladen, aber heute würde mehr als das Übliche geschehen. Alle wussten es.
    Als er sich am Morgen zurecht machte, war Miguel beunruhigend gefasst. Wochenlang war sein Magen verkrampft gewesen, doch jetzt verspürte er die Gelassenheit nach einer Entscheidung, wie ein Mann, der zum Galgen geht. Er hatte erstaunlich gut geschlafen, trank aber trotzdem vier große Schalen Kaffee. Er wollte rasen vor Kaffee. Er wollte, dass Kaffee seine Leidenschaften aufstachelte.
    Er hätte nicht besser vorbereitet sein können, doch er wusste, dass einiges nicht in seiner Macht stand. Fünf Männer waren, wissentlich oder nicht, seine Handlanger, und er war
darauf angewiesen, dass sie ihre Rolle spielten. Alles war sehr fragil. Dieses gewaltige Gebäude konnte im nächsten Moment zu Staub zerbröckeln.
    Und so hatte er sich vorbereitet, so gut er konnte. Er reinigte sich vor dem Sabbat in der Mikwe und widmete sich am heiligen Tag dem Gebet. Am folgenden Tag setzte er seine Gebete fort und fastete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
    Einen zweiten Ruin würde er nicht überleben. Über den ersten mochte die Welt hinwegsehen, ihn als bloßes Pech verzeihen. Aber ein zweiter würde ihn auf ewig vernichten. Kein Händler von Bedeutung würde einem solchen Versager seine Tochter

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