Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
saß mit dem Hörer am Ohr an seinem Schreibtisch und sortierte die diversen Nachrichten, die er inzwischen erhalten hatte. Linford verkehrte jetzt nur noch schriftlich mit ihm, und in seinem letzten Schreiben hieß es, dass er weggefahren sei, um mit ein paar Leuten zu sprechen, die am Mordabend zu Fuß in der Holyrood Road unterwegs gewesen waren. Hi-Ho Silvers war es dank seiner Verbissenheit nämlich gelungen, vier Kneipen ausfindig zu machen, in denen Roddy Grieve am Abend seiner Ermordung – ganz allein – etwas getrunken hatte. Zwei davon waren im West End, eine am Lawnmarket, bei der vierten handelte es sich um die Holyrood Tavern. Es gab sogar inzwischen eine Liste mit den Namen der Stammgäste dieses Lokals. Und mit diesen Leuten wollte Linford sprechen. Höchstwahrscheinlich reine Zeitverschwendung, doch was hatte er selbst – Rebus – denn bisher schon Bedeutendes auf die Beine gestellt? Sich von irgendwelchen vagen Ahnungen leiten lassen. »Spreche ich mit Mr. Grieves Sekretariat?«, sagte er in die Muschel. Dann befragte er die Dame am anderen Ende nach den Drohbriefen. Ihrer Stimme nach zu urteilen, musste sie noch jung sein – vielleicht Mitte zwanzig bis Anfang dreißig. Außerdem schien sie ihrem Chef in Loyalität ergeben. Trotzdem klang ihre Darstellung des Geschehens nicht eingeübt. Nichts, was eine solche Annahme begründet hätte.
Nur so eine Ahnung.
Als Nächstes sprach er mit Seona Grieve. Er erreichte sie auf ihrem Handy. Sie klang nervös, und das sagte er ihr auch.
»Bleibt nicht mehr viel Zeit, den Wahlkampf vorzubereiten«, sagte sie. »Und meine Schule ist auch nicht besonders glücklich mit der Situation. Man hat dort geglaubt, ich würde nur etwas Zeit brauchen, um mich von dem Schicksalsschlag zu erholen, und jetzt erfahren sie plötzlich, dass ich vielleicht überhaupt nicht zurückkomme.«
»Wenn Sie gewählt werden.«
»Ja, genau, diese kleine Hürde wäre freilich noch zu nehmen.«
Sie hatte zwar von einem Schicksalsschlag gesprochen, klang aber gar nicht wie jemand, den gerade erst ein solches Unglück getroffen hatte. Zum Trauern blieb ihr keine Zeit. Vielleicht hatte sie ja genau das Richtige getan, um sich von dem Mord abzulenken. Linford hatte überlegt, ob Seona Grieve es möglicherweise darauf abgesehen hatte, in den Fußstapfen ihres Mannes auf dem schnellsten Weg ins Parlament einzuziehen. Wäre immerhin ein Motiv gewesen. Rebus konnte der Theorie nichts abgewinnen.
Aber eine andere plausible Theorie hatte er natürlich auch nicht.
»Also, Inspektor, falls es sich nicht nur um einen Höflichkeitsanruf handelt…?«
»Entschuldigung, ja natürlich. Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob Ihr Mann je Drohbriefe bekommen hat.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Hat er Ihnen erzählt, dass sein Bruder solche Briefe bekommen hat?«
»Wirklich? Nein, das hat Roddy nie erwähnt. Hat Cammo ihm davon erzählt?«
»Offenbar.«
»Hm, das alles ist mir völlig neu. Ansonsten hätte ich Ihnen bestimmt schon davon berichtet.«
»Sicher doch.«
Sie war etwas irritiert, weil sie spürte, dass ihr etwas unterstellt wurde, jedoch nicht genau wusste, was. »Ist das alles, Inspektor?«
»Ja, ich möchte Sie nicht weiter stören, Mrs. Grieve. Tut mir Leid, dass ich Sie behelligt habe.« Aber das war natürlich ganz und gar nicht der Fall, und auch seine Stimme verriet nichts von einem solchen Bedauern.
Sie verstand die Botschaft. »Also, ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen und danke Ihnen für die harte Arbeit, die Sie leisten.« Plötzlich ging die Politikerin mit ihr durch, der es vor allem um Wirkung und nicht so sehr um Aufrichtigkeit ging. »Und natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, wenn Sie meinen, dass ich etwas für Sie tun kann.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Grieve.«
Sie gab sich Mühe, die Ironie in seiner Stimme zu überhören. »Nun gut. Wenn Sie im Augenblick sonst keine Fragen mehr haben?«
Rebus sagte gar nichts, hängte nur einfach ein.
Er fand Siobhan im Büro nebenan. Sie hatte den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt und machte gerade eine Notiz.
»Danke«, sagte sie. »Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Ja, bis dahin.« Sie sah Rebus hereinkommen. »Und ich bringe noch einen Kollegen mit, wenn es Ihnen recht ist.« Sie hörte wieder zu. »Also gut, Mr. Sithing. Wiedersehen.«
Der Hörer rutschte von ihrer Schulter und fiel zurück auf die Gabel. Rebus inspizierte
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