Der kalte Himmel - Roman
wir den Felix nicht länger und lassen den Bub nach Sonnroth gehen. Der Felix wird nie so werden wie die anderen. Das müssen wir einfach akzeptieren. «
Alles in Marie versteifte sich. Paul sah, wie aufgewühlt sie war, und nahm ihre Hand.
» Komm, steig ein « , bat er.
» Das Stück gehe ich selber « , sagte sie leise und lief die letzten fünfzig Meter allein auf den Hof zu.
*
Die nächsten Tage waren nicht leicht. Das Schweigen in der Familie war mit den Händen greifbar.
» Viel hat der Bub ja nicht gelernt « , meinte Elisabeth, als die ganze Familie wieder einmal bei einer Mahlzeit zusammensaß und Felix wie gewohnt sein Brot in unzählige kleine Bröckchen zerteilte.
Marie ersparte sich die Antwort. Hier war jedes Wort umsonst. Auch Paul und Xaver zogen es vor zu schweigen. Keiner hatte Lust, die schmerzlichen Diskussionen aufs Neue zu entfachen. Maries Gedanken drehten sich im Kreis und machten sie ungerecht zu jedem, so dass man sie allgemein lieber in Ruhe ließ.
Sogar Xaver ging ihr aus dem Weg. Sicher spürte er ihren Kummer und konnte ihn vielleicht auch besser nachvollziehen als die anderen, denn sie hatte ihn nie anders als liebevoll zu Felix erlebt. Allein, helfen, das konnte auch er nicht. Xavers Welt war immer das Dorf gewesen, hier hatte er sich ein Leben lang zurechtgefunden, den Hof geführt und eine Familie gegründet. Hier wurde er geachtet – auch wenn er nie zu denen gehörte, die den Ton angaben, die laut ihre Sprüche klopften. Xaver gehörte zu den Stillen im Dorf, vielleicht war das ein Grund, warum er sich mit Felix so verbunden fühlte. Früher als die anderen Familienmitglieder war er auf die mathematische Begabung des Jungen aufmerksam geworden und hatte Marie davon berichtet.
Xaver nahm die Dinge, wie sie waren, und er hatte sich zeit seines Lebens darum bemüht, dem gerecht zu werden, was das Leben an ihn herantrug. Doch wenn das Leben sich verhakte, wenn die Dinge aus der Spur oder die Menschen über Kreuz gerieten, dann stand er hilflos davor. Aufzubegehren oder gar gegen ein Schicksal anzugehen, das war seine Sache nicht. Nie hätte Marie sich getraut, ihn zu fragen, ob er zufrieden war mit dem, was ihm das Leben beschert hatte. Wie er es aushielt mit seiner harschen Frau und der Kälte, die ihn so oft umgab. Tief in ihrem Herzen war Elisabeth sicher kein schlechter Mensch, aber sie war erstarrt in einem Denken, in dem Zucht und Ordnung zu verhängnisvollen Leitbildern einer ganzen Nation wurden, die das Humane in den Abgrund gedrängt und Hass und Gewalt den Boden bereitet hatten. Natürlich liebte Elisabeth ihren Sohn Paul und unterstützte seine Familie. Nur zeigen konnte sie ihm und den Enkeln ihre Liebe nicht.
» Beten, bis die Knie blutig waren « , so hatte Paul einmal seine Kindheit beschrieben. Wenn man bedachte, wie hart Elisabeth ihn angepackt haben musste, grenzte es bald an ein Wunder, dass noch etwas aus ihm geworden war, dachte Marie. Und schämte sich sogleich über die Kühle, mit der sie plötzlich über ihren Mann nachdachte. Da war eine Fremdheit in ihrer Empfindung, die sie nie zuvor gespürt hatte und die ihr selbst unheimlich war.
Ja, sie war sich selbst fremd geworden in diesen Tagen und wusste oft nicht mehr ein noch aus. Sie hätte schreien mögen vor Zorn, wenn Paul ihren Jüngsten morgens ins Auto packte, um ihn in die Sonderschule zu fahren. Nach Sonnroth, auf das Abstellgleis des Lebens. Alles in ihr rebellierte, sie konnte, sie wollte sich nicht in das einfügen, was Paul als das Unvermeidliche bezeichnete. Unvermeidlich, was hieß das schon? Das hieß doch nur, dass ihnen hier auf dem Hof nichts anderes einfiel. Und wie denn auch? Keiner der Moosbachers hatte bisher eine weiterführende Schule besucht, ein jeder stets nur das Nächstliegende im Leben genommen. Nie hatte sich einer von ihnen gefragt, ob der vorgezeichnete Weg wirklich der beste war. Alles war gut gewesen – jedenfalls fast alles –, und ja, Marie hatte sich glücklich gefühlt in ihren ersten Ehejahren, sie war eins mit sich und ihrer Welt. Ihre Kinder waren Wunschkinder gewesen, alle drei. Ein jedes willkommen, jedes neue Baby erschien ihr wie ein weiterer Baustein zu ihrem persönlichen Glück, das den Hof mit Lachen und Lärm erfüllte, mit Leben. Es war das Leben, in dem sie zu Hause war. Doch diese Einheit war nun zerbrochen, und Marie kannte sich nicht mehr aus. Nicht mit sich und nicht mit allem anderen. Sie musste etwas tun. Doch was?
*
Etwa eine Woche
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