Der kalte Himmel - Roman
«
Felix’ Blick ging ins Leere. Mit keiner Reaktion gab er preis, ob er den jungen Arzt aus dem Münchner Café wiedererkannte. Die zwei anderen Ärzte sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
» Entschuldigung, liebe Kollegen « , sagte Niklas freundlich, » diesen jungen Patienten habe ich in München kennen gelernt. Und seine Mutter hat die anstrengende Fahrt nach Berlin auf sich genommen, um hier Hilfe zu finden. «
*
Erst als Marie vor Niklas’ Schreibtisch Platz genommen hatte, entspannte sie sich ein wenig. Sie beobachtete, wie der junge Arzt ohne zu zögern ein Einmachglas aus dem Regal zog, das bis obenhin mit blauen Murmeln gefüllt war und das sofort Felix’ ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Jede Scheu war vergessen, begeistert steckte er seine Finger in das Glas und zog eine Handvoll Murmeln heraus. Marie hatte ihm seine nasse Jacke schon an der Türschwelle zum Besprechungszimmer ausgezogen, so dass er sich nun ohne Umschweife auf den Boden sinken ließ und die Murmeln hin- und herrollte. In diesem Augenblick waren für Felix die Strapazen der langen Reise wie weggeblasen; der Arzt und seine Mutter existierten nicht mehr für ihn.
Niklas nahm an seinem Schreibtisch Platz und sah Marie erwartungsvoll an.
» Sie müssen mir helfen « , sagte sie leise. » München war die Hölle. «
In diesem Augenblick trat eine ältere Krankenschwester, die Marie vorhin auf dem Flur gesehen hatte, zur Tür herein.
» Ja? « , fragte Niklas.
» Der Patient in Zimmer fünf wartet auf Sie « , antwortete die Schwester mit leicht vorwurfsvoller Stimme.
» Ich brauche hier noch einen Moment « , entgegnete Niklas ruhig.
Die Schwester betrachtete Marie und den Jungen skeptisch. Sie war eine Person, die gerne die Kontrolle über die Dinge behielt, und kämpfte nun gegen das ungute Gefühl an, nicht informiert worden zu sein.
» Ist gut « , antwortete sie spitz und zog die Tür wieder hinter sich zu.
» Was haben denn nun die Münchner Ärzte gesagt? « , wollte Niklas wissen.
» Die haben ihm erst das Beruhigungsmittel gespritzt und ihn am nächsten Tag sogar ohne mein Wissen in einen Hörsaal gebracht. Vorgeführt wie ein Zirkusaffe haben sie ihn. «
Marie wirkte erschöpft, sie sprach langsam. Es schien, als ob die schrecklichen Stunden an der Münchner Universitätsklinik noch einmal vor ihrem inneren Auge vorbeizogen.
» Der Bub war so weit weg, ich habe gedacht, ich verliere ihn. «
» In einen Hörsaal … « , versuchte der junge Arzt das Erzählte zu rekapitulieren. » Und was haben die Kollegen dort konstatiert? «
» Sie haben wieder von pubertärer Schizophrenie gesprochen. «
Marie suchte seinen Blick. Niklas rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er suchte nach den richtigen Worten.
» Entwicklungsstörungen haben viele Gesichter, Marie « , sagte er vorsichtig. » Da sind sich auch die Experten nicht immer einig. «
» Ja, aber die wollten ihn in der Psychiatrie behalten « , antwortete Marie entrüstet.
» So schnell geht das nicht « , warf Niklas ein.
Sein Telefon klingelte.
» Cromer. « Niklas hatte den Hörer abgenommen. » Ich rufe Sie in zehn Minuten zurück. «
Er legte auf und sah zu Felix hinüber. Der hatte sich inzwischen noch weitere Murmeln aus dem Einmachglas geholt und spielte selbstvergessen vor sich hin.
» Wie sind Sie denn mit den Kollegen verblieben? « , fragte er Marie.
» Gar nicht. « Ihre Stimme war fast unhörbar. » Ich hab die Behandlung abgebrochen. Ich bin mit dem Felix zurück in die Hollertau. «
Niklas seufzte und rieb sich die Stirn.
» Der Professor wollte einen Irren aus ihm machen, und das ist er nicht. «
Marie hatte ihre Stimme wiedergefunden. Trotzig klang sie nun. Unbeirrbar. Irgendwann während dieses ersten Gespräches hier in Berlin war ihr klar geworden, dass sie auch diesen Arzt überzeugen musste. Dass auch mit Niklas Cromer nichts von alleine laufen würde. Dass auch er erst begreifen musste, wie besonders Felix war. Und bevor sich die beiden nicht wirklich kennen gelernt hatten, musste sie die Stimme ihres Sohnes sein. Niklas blätterte in seinem Kalender und runzelte die Stirn.
» Morgen früh « , sagte er endlich. » Um acht Uhr. Wir müssen das noch vor die Visite legen. Mein Terminplan ist randvoll. Acht Uhr, das ist unsere einzige Möglichkeit. « Er sah Marie an und lächelte. » Ich hab Ihnen ja versprochen zu helfen. «
Marie fiel ein Stein vom Herzen.
Unten im Foyer fand sie eine Telefonzelle, von der
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