Der kalte Himmel - Roman
unbeirrt weiter und griff nach einer hölzernen Fünf, die er dem Jungen demonstrativ hinhielt. » Felix? « , insistierte er, nun etwas lauter, als der Junge immer noch nicht reagierte.
Erst jetzt sah der Junge auf. Als er die Zahl erblickte, die ihm der Arzt entgegengestreckt hielt, wandte er sich abrupt ab, warf sich zu Boden und hielt sich die Ohren zu. So in sich gekrümmt, drehte er sich mehrfach um die eigene Achse wie ein Kreisel, einem eigenen, unbegreiflichen Rhythmus preisgegeben. Niklas machte sich Notizen. Er sah nachdenklich aus.
» Magst du keine Fünf? « , fragte er schließlich.
Marie verfolgte das Schauspiel im Nebenzimmer so gebannt, dass sie das kurze Klopfen an der Tür überhört hatte und erst auf den überraschenden Besuch reagieren konnte, als eine äußerst hübsche, elegant gekleidete Frau in Pelzmütze vor ihr stand.
» Oh. Entschuldigung. Ich muss mal kurz zum Herrn Doktor « , sagte sie augenzwinkernd und drückte ohne zu zögern die angelehnte Glastür, die Maries Beobachtungsplatz vom Behandlungszimmer des Arztes trennte, weit auf.
» Schatz, was machst du denn hier? « , fragte Niklas überrascht und sprang von seinem Stuhl auf.
Die junge Frau lächelte. » Mein Vater hat Professor Leyendecker heute Abend zum Essen bei sich – und weißt du, wer noch eingeladen ist? Du und ich! «
Niklas warf Marie, die unfreiwillig Zeugin dieser Szene geworden war, einen entschuldigenden Blick zu.
» Professor Leyendecker ist wirklich interessiert « , flüsterte die junge Frau in verschwörerischem Ton.
Dann lächelte sie zu Marie herüber. » Sie wissen ja gar nicht, was für ein Glück Sie haben. « Ein unverkennbarer Besitzerstolz schwang in ihrem Ton mit. » Der beste Facharzt von Berlin, Niklas hat seine Prüfungen als Bester bestanden! «
Dem jungen Arzt war das alles ziemlich unangenehm. » Darf ich vorstellen, das ist meine Verlobte und Kollegin, Frau Dr. Katja Haaren, die in Bezug auf mich manchmal zur Übertreibung neigt. «
» Grüß Gott « , sagte Marie zurückhaltend.
» Guten Tag « , antwortete die junge Frau mit der unverkennbaren Nonchalance einer Tochter aus gutem Hause.
Demonstrativ küsste sie ihren Verlobten auf den Mund. » Heute Abend, um sieben! « , flüsterte sie zärtlich. » Sei pünktlich. «
*
» Marie, was genau war das mit den Zahlen? « , fragte Niklas, sichtlich bemüht, die verlorengegangene Konzentration wiederherzustellen.
» Er ist sehr schnell und gut im Kopfrechnen « , sagte Marie. » Aber was fehlt ihm jetzt eigentlich? «
Der junge Arzt lief in seinem Zimmer auf und ab. » Das, was Sie mir von Felix beschrieben haben, und das, was ich beobachten kann, ergibt ein äußerst vielschichtiges Bild sehr unterschiedlicher Symptome. «
Sein Blick fiel durch die Glasscheibe hinüber in den Behandlungsraum, wo sich Felix unbefangen bewegte. » Die Entwicklungsstörungen von Felix sind nicht einfach zu verstehen. «
Beide sahen sich an. Marie warf erneut einen nachdenklichen Blick zu ihrem Jungen hinüber, der sich inzwischen eine Murmelbahn aus dem Regal gegriffen hatte und in aller Seelenruhe damit spielte.
» Ich kann Ihrem Sohn nur helfen, wenn ich genügend Zeit habe, seine Verhaltensweisen zu studieren « , fuhr Niklas fort. »Es ist nötig, ihn Baustein für Baustein zu analysieren. Nur so gewinnen wir Klarheit. « Der Arzt zündete sich eine Zigarette an.
» Aber ich habe Ihnen doch beschrieben, wie er sich verhält « , sagte Marie mit Nachdruck. » Dass er sich konzentrieren kann, wenn er will, dass er sehr gut rechnet. Ich meine « , nun suchte sie nach der richtigen Formulierung, » das ist doch ein Zeichen. «
Niklas sah ihr offen ins Gesicht. » Ein Zeichen wofür? «
Marie schluckte. » Ein Zeichen dafür, dass er nicht dumm ist. «
» Sie sind seine Mutter, Marie « , antwortete Niklas. » Ihre Sicht auf Ihren Jungen ist eine sehr wichtige. « Der Arzt zog an seiner Zigarette.
Marie schoss das Blut in den Kopf, sie schlug die Augen nieder. Ähnliche Worte hatte sie schon einmal gehört. Also doch, hämmerte es in ihr. Also doch! Er ist genauso wie die anderen. Er nimmt mich nicht ernst. Ihr Gesicht verfinsterte sich.
» Ein entscheidender Baustein in der Gesamtbetrachtung von Felix « , fuhr er fort. » Sie haben Ihren Sohn hierhergebracht. Damit geben Sie ihm eine ungeheure Chance. Aber die Sicht der Mutter kann und darf nicht die sorgfältige klinische Analyse ersetzen. «
Marie sah den Arzt zweifelnd an.
Niklas hielt
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