Der kalte Himmel - Roman
Felix einen Termin.
Während Niklas beim Betreten seiner Abteilung noch darüber nachdachte, dass er möglichst unbemerkt von der diensthabenden Schwester die nächste Dusche ansteuern sollte, hatte diese ihn schon erspäht.
» Herr Doktor, so geht das aber nicht « , schimpfte sie.
Niklas starrte sie an. » Was denn? « , sagte er mit belegter Stimme.
» Na, das hier « , rief sie und riss die Tür zu seinem Behandlungszimmer auf. Was er da erblickte, verschlug ihm den Atem. Die große Glasfront zur Westseite war über und über mit Formeln bedeckt. Eine Zahl an der anderen spiegelte sich im Grau des Berliner Morgenhimmels. Felix. In dieser Zahlenwelt hatte er gestern Zuflucht vor ihrem morgendlichen Streit gesucht, er hatte gerechnet, während Marie und er aneinander verzweifelt waren. Die furiose Komposition des Jungen schien Niklas wie der bildkräftige Beweis dafür, dass Marie mit allem, was sie immer behauptet hatte, im Recht war. Er war ein Idiot. Ein verdammter Volltrottel. Um ein Haar hätte er alles vermasselt. Doch diese Nacht hatte ihm noch einmal eine Chance gegeben, und bei Gott, er wollte sie nutzen. Er würde alles dafür tun, um das Rätsel Felix Moosbacher zu lösen.
Als er sich auf einen Sessel fallen ließ, hätte er fast den Schlegel des Xylophons zerbrochen, den Felix auf der Sitzfläche liegen gelassen hatte. Das Instrument lag am Boden, mitten im Raum. Es sah aus, als ob Felix darauf gespielt hätte, bevor er die Zahlen notierte. Es sah aus, als ob das Xylophon in einer geheimen Verbindung zu diesen Formeln stand … Das war es! In der Wahrnehmung von Felix musste es eine Verknüpfung zwischen Musik und Mathematik geben! Das war der Ariadnefaden im Labyrinth seines rätselhaften Denkens. Er hatte ihn endlich gefunden.
Nun musste er diesem Faden folgen – aber wie? Allein würde er nicht weiterkommen, er musste einen weiteren Experten zu Rate ziehen, vielleicht Professor Krenn vom Mathematischen Institut konsultieren. Und die Musik? Vielleicht könnte er Alex bitten … Ja, so könnte es gehen! Wenn er sich beeilte, wäre vielleicht noch ein Termin auszumachen, vielleicht sogar heute Vormittag. Jetzt, wo ihm eine glückliche Fügung diese Indizien in die Hände gespielt hatte, wollte er keinen Tag länger warten. Er stand kurz vor der Lösung, er spürte es.
*
Nach über fünfhundert Kilometern über Ingolstadt, Hof und Halle stand Paul mit seinem Ford Taunus gegen neun Uhr endlich vor dem Schlagbaum an der Grenze zwischen Kreuzberg im amerikanischen Sektor und dem sowjetisch besetzten Stadtteil Mitte und starrte auf das Springer-Hochhaus, das einsam und monströs zugleich inmitten dieser vernarbten Stadtlandschaft aufragte.
Paul hatte nicht geschlafen in dieser Nacht, er war einfach durchgefahren, weiter und weiter durch ein trostloses Zonenrandgebiet, von kreisenden Gedanken gemartert. Die Müdigkeit kribbelte wie ein Ameisenheer in seinen Gliedern, er brauchte dringend einen starken Kaffee. Doch erst einmal kamen zwei Grenzbeamte der Deutschen Demokratischen Republik auf ihn zu, und die sahen nicht aus, als ob er sie nach einem Kaffee fragen könnte. Der Größere von beiden prüfte seinen Pass, während der andere um seinen Wagen herumlief und das Innere von allen Seiten beäugte. Paul wartete. Dann endlich erhielt er seinen Pass zurück, zusammen mit dem Passierschein, der nötig war, um vom Ostsektor, über den er gekommen war, in den Westsektor zu wechseln.
*
Als Marie wie für diesen Tag verabredet um Viertel nach neun mit Felix den Klinikflur betrat, kam ihr Niklas bereits mit großen Schritten entgegen.
» Lasst die Mäntel an « , rief er. » Ich werde heute nicht mit Felix arbeiten. «
Marie sah ihn verwundert an. » Aber warum denn nicht? « , fragte sie leise.
» Wir haben einen Termin « , sagte er stolz, schob seinen Arm sanft in Maries Rücken und dirigierte Mutter und Sohn auf den Ausgang zu. Er hielt ihnen die Tür auf. Für einen Moment sahen sich Marie und Niklas in die Augen. Dann senkte Marie den Blick. Sie hatte keine Ahnung, was er vorhatte.
*
Paul stand wenig später mit einer Zigarette in der Hand in einer Telefonzelle am Kurfürstendamm und telefonierte mit dem Krankenhaus.
» Wie, nicht in der Klinik? « Angespannt hörte Paul den Ausführungen der Schwester zu. » In der Universität? Was macht sie denn da? « , fragte er. Dann brachte er nur noch ein » Aha « heraus. Paul holte tief Luft. » Und wo ist das? «
*
Als Niklas mit Marie und Felix
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