Der kalte Himmel - Roman
das Foyer der Freien Universität Berlin betrat, war dort die Hölle los. Überall klebten Plakate, zahlreiche Studenten verteilten Flugblätter, organisierten sich zu Sprechchören oder hielten im Sitzstreik das Treppenhaus besetzt. Einigen Professoren wurde der Zutritt in die Hörsäle verwehrt, was zu erregten Debatten führte. » Ho, Ho, Ho Tschi Minh « , tönte es aus allen Ecken. Felix blickte äußerst ängstlich drein. Mist, dachte Niklas, das erschreckt ihn, das kann uns alles verderben. Er stellte sich schützend vor den Jungen und richtete es gemeinsam mit Marie so ein, dass sie ihn mit ihren Mänteln so gut wie möglich abschirmten. So gelang es ihnen, Felix ohne Zwischenfälle bis zum Auditorium des Mathematischen Institutes zu führen.
Während der Junge sogleich begann, die Tischklappen in den hoch ansteigenden Stuhlreihen eine nach der anderen herunterzuklappen, eilte ein sichtlich aufgelöster Professor Krenn in den Saal.
» Entschuldigen Sie bitte « , keuchte er. » Aber hier an der Uni steht alles kopf, Sie haben ja gesehen, was da los ist. Ich musste heute sogar meine Vorlesung abbrechen. «
Niklas betrachtete den Mann besorgt. » Vielen Dank « , sagte er, sichtlich um Normalität bemüht, » wir danken Ihnen außerordentlich, dass Sie sich trotzdem für uns Zeit nehmen. «
Der Professor sah den jungen Arzt skeptisch an. » Was Sie mir erzählt haben, hat meine Neugier geweckt « , gab er zu. » Trotzdem muss ich so schnell wie möglich zurück zu einer Krisensitzung mit meinen Kollegen. Können wir gleich anfangen? «
Niklas sah sich nervös um. » Ich fürchte, wir müssen noch einen Augenblick warten. «
Marie verstand nun gar nichts mehr. Sie warf Niklas einen fragenden Blick zu, doch der gab nichts preis.
» Entschuldigen Sie « , erklang in diesem Moment eine helle Stimme vom obersten Treppenabsatz des Hörsaals. » Schneller ging es nicht. «
Überrascht drehte sich Marie um.
» Alex! « , rief Felix. » Alex ist da. «
Marie sah überwältigt von einem zum anderen. Was hatten sie vor, was hatten Niklas und Alex hier ausgeheckt? Der Professor sah angespannt auf seine Uhr.
» Eine halbe Stunde « , drängte er nun, » eine halbe Stunde, mehr kann ich Ihnen wirklich nicht einräumen. «
Er setzte sich erwartungsvoll auf einen Klappstuhl in der ersten Reihe, zögernd ließ sich Marie neben ihm nieder. Niklas nickte ihr aufmunternd zu und setzte sich ebenfalls. Alex reichte Felix liebevoll die Hand, streifte hastig ihren bestickten Mantel ab und betrat die Bühne, auf der ein großer, alter Grotrian-Steinweg-Flügel stand.
Alex hatte sich für den ersten Satz der späten Schubert-Sonate, B-Dur, Deutschverzeichnis 960 , entschieden und schlug nun präzise und sensibel zugleich die Tasten an. Über die gleichmäßigen Akkordwiederholungen der linken Hand legte sich die liedhafte Melodie ihrer Rechten. Längst war ihr Felix auf die Bühne gefolgt, neugierig betrachtete er das Spiel ihrer Hände und lugte auf Zehenspitzen in den geöffneten Innenraum des Flügels. Das Heben und Senken der Dämpfer im Zusammenspiel mit dem Anschlagen der Filzhämmerchen faszinierte ihn sichtlich, er schien Ort und Zeit völlig vergessen zu haben. Plötzlich brach das Spiel ab.
» Felix? « Alex sah zu dem Jungen hin. » Was für eine Zahl ist das? « Sie spielte ein A.
» Das ist eine Neun. «
» Und diese? « , fragte sie. Sie spielte ein F.
» Das ist eine Fünf « , sagt er.
Und so ging es weiter. Ein von Alex gespielter Akkord identifizierte Felix als eine Dreihundertfünfundzwanzig. Doch Alex war mit ihrer Demonstration noch nicht fertig.
» Felix « , sagte sie. » Ich spiele, und du gehst an die Tafel und schreibst die Zahl. «
Was dann geschah, übertraf Maries kühnste Erwartungen. Zu Schuberts Klaviersonate im ruhigen liedhaften Tempo flogen die Zahlen nur so dahin. In Windeseile hatte Felix mit seinen Formeln die halbe Schiefertafel bedeckt. Wie gebannt starrte Marie auf die fliegenden Kinderhände, die die Zahlen wie die Perlen einer Schnur zu ordnen wussten. Vorsichtig blickte Marie zu dem Professor neben ihr, der mit kritischem Blick Felix’ Formeln überprüfte.
» Das stimmt « , sagte er kopfschüttelnd. » Das stimmt alles. Der Junge ist genial! «
Marie schwindelte. Der ganze Saal schien sich um sie zu drehen. Da spürte sie Niklas’ Blick. Dankbar sah sie ihm in die Augen. Er hatte sein Versprechen wahr gemacht. Über alle Hürden hinweg hatte er ihr geholfen, dem
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