Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
Kalten Krieg enthob aber gleichzeitig auch viele der ehemals von Deutschland besetzten Staaten - West- wie Osteuropäer - von der Last, ihre «Meistererzählungen» etwa zum eigenen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Faschismus zu hinterfragen. 3
Den Kalten Krieg in seiner Gesamtheit als ein geschlossenes, selbstreferentielles System zu betrachten, macht auch verständlicher, daß er erst beendet werden konnte, als das Gesamtsystem in Frage gestellt wurde. Die Infragestellung und das Übertreten der bisherigen Regeln des Kalten Krieges durch einen der beiden Hauptbeteiligten hatte zwangsläufig die Zerstörung des Systems zur Folge. Die von Gorbatschow ab 1985 gewählte Strategie der Offenheit nach innen und außen, die wiederum ihre Ursachen in den spezifischen, aber mittlerweile für die Sowjets unbezahlbaren Anforderungen des Systems hatte, hemmte zunächst nur den eingefahrenen Ablauf des Kalten Krieges. Das System wurde aber in dem Moment zerstört, als sich der Westen nach einer Phase der klassischen Reaktionen des Kalten Krieges auf die Angebote Gorbatschows einließ. Kaum jemand erinnert sich heute noch daran, daß das Auftreten des sowjetischen Generalsekretärs zunächst typische Reaktionen des Kalten Krieges auslöste. Der erwähnte berühmt-berüchtigte Vergleich Gorbatschows mit dem NS-Propagan-dachef Goebbels, den der bundesdeutsche Kanzler Helmut Kohl im November 1986 in einem Interview mit der US-Zeitschrift Newsweek lieferte, zeigte schlaglichtartig das tiefe Mißtrauen, das genau drei Jahre vor dem Mauerfall noch die internationalen Beziehungen beherrschte. 4 Als historische Ironie blieb, daß der sowjetische Generalsekretär eigentlich angetreten war, die Sowjetunion für die weiteren Runden des Kalten Krieges zukunftsfähig zu machen, nicht aber, um den Systemkonflikt zu beenden.
Das Ende des Kalten Krieges wurde wiederholt offiziell erklärt: Mitte 1990 auf dem NATO-Gipfel in London, bei den Zwei-Plus-Vier-Gesprächen in Bonn im September des Jahres und auch während der Feierlichkeiten zur Unterzeichnung der «Charta von Paris» im November 1990. Das formale Ende der Auseinandersetzung, das gleichzeitig sichtbar machte, daß damit auch der Ost-West-Kon-flikt seit 1917, in dem der Kalte Krieg die radikalste Phase gebildet hatte, abgeschlossen war, zeigte sich eher unspektakulär. Sechs Tage vor der offiziellen Auflösung der UdSSR wurde am 25. Dezember 1991 auf dem Kreml die rote Fahne der Sowjetunion eingeholt und die weiß-blau-rote Trikolore Rußlands aufgezogen. Es blieb die Frage, warum die UdSSR und mit ihr der gesamte Ostblock nach Jahrzehnten teilweise massiver wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Auseinandersetzung schließlich sang-und klanglos untergegangen waren. Die US-Regierung war sich ganz sicher: Präsident Bush erklärte vier Wochen nach der Auflösung der UdSSR in seiner Regierungserklärung vom 28.Januar 1992, der freie Westen habe im globalen Konflikt die Diktatur niedergerungen und damit auch den Sieg im Kalten Krieg davongetragen. Ähnlich sah es der Sicherheitsberater seiner Vorgänger, Zbigniew Brzezinski. Gorbatschow, der 1990 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, beharrte demgegenüber darauf, daß keine Seite gewonnen habe. Das Ende der Konfrontation sei der gemeinsame Sieg über den Kalten Krieg gewesen. Die unterschiedlichen Auslegungen waren bereits während des im Dezember 1989 veranstalteten sowjetisch-amerikanischen Gipfels auf der Mittelmeerinsel Malta Thema gewesen. Gorbatschow hatte sich dort auch über die als «provokativ» und «beleidigend» verstandenen Äußerungen beklagt, die im Westen über den «Zusammenbruch des Sozialismus» und den «Triumph westlicher Werte» kursierten. 5 Bush und Gorbatschow einigten sich dort schließlich auf die Kompromißformel, in Ostmitteleuropa hätten sich nicht westliche, sondern «demokratische Werte» durchgesetzt.
Versucht man die Erklärungsmuster zum Ende des Kalten Krieges und zum Untergang der Sowjetunion zu bündeln, so zeigen sich zwei Hauptrichtungen. 6 Nach der ersten waren vor allem interne Gründe, die bereits in der Gründungsphase der UdSSR angelegt wurden, für den Zerfall verantwortlich. Die Sowjetunion sah sich nach dieser Theorie aufgrund fehlender intellektueller und wirtschaftlicher Ressourcen nicht in der Lage, die Rolle als ideologischer Wegbereiter der «Weltrevolution» zu spielen, die ihr Lenin zugedacht hatte. Unter Stalin sei der Weg ideologischer Überzeugung
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