Der kalte Kuss des Todes
erzählen, Iwan Pawlowitsch?«, sagte Kassjanow spöttisch lächelnd.
»Ich behaupte ja nicht, dass jemand das Blut getrunken hat, das aus der Halswunde des Opfers geflossen ist«, entgegnete der Mediziner ungerührt. »Ich stelle lediglich Vermutungen über äußerst ungewöhnliche Manipulationen mit dem Blut an. Jemand könnte über der Leiche gesessen haben, entweder in der Hocke, so wie ich jetzt, oder auf allen vieren kniend. Dann hat er absichtlich das Blut mit der Hand geschöpft und – ich wiederhole, ebenfalls mit Absicht – hier, hier und hier verspritzt.«
»Wozu?«, fragte Kolossow ehrlich verwundert.
»Fragen Sie mich nicht.« Pawlowitsch hob die Schultern. »Das alles sind Vermutungen. Vielleicht irre ich mich ja.«
Wann hättest du dich je geirrt!, dachte Kolossow, dem es plötzlich heiß wurde, was nicht nur an der Sonne lag, die bereits merklich wärmte. Für Mitte Mai waren die Temperaturen ungewöhnlich hoch.
Die restliche Zeit, die bis zur Lagebesprechung im Präsidium am Tatort verbracht wurde, verging mit der üblichen hektischen Routinearbeit: Mitarbeiter wurden abkommandiert, um die Datschensiedlung zu überprüfen und die Einwohner zu befragen; ein Plan für die Suchaktionen wurde aufgestellt, über die man im Präsidium Bericht erstatten musste; Verantwortliche für die Überprüfung der verschiedenen Versionen vom Tathergang wurden bestimmt. Man unternahm auch den Versuch, einen Spürhund einzusetzen, doch aus irgendeinem Grund weigerte das Tier sich hartnäckig, die Spur aufzunehmen, und winselte nur jämmerlich.
Kolossow erfüllte seine Aufgaben als Vorgesetzter wie ein Roboter. Die schlaflose Nacht machte sich bemerkbar.
Obwohl noch keine Datschensaison war, hatte sich vor dem Zaun eine kleine Gruppe neugieriger Bürger versammelt, mit denen sich der Inspektor und die Männer vom Einsatzkommando unterhielten. An ihren gelangweilten Gesichtern erkannte Kolossow, was die Leute dachten: alles nur Humbug, nicht ein Krumen nützliche Information.
»Mit uns die Kraft des Kreuzes . . . Gott schütze uns, Gott schütze uns . . .«
Kolossow trat durch die Gartenpforte auf die Straße. Eine bucklige Frau in einer zerrissenen, wattierten Jacke und in Überschuhen drückte ihr Gesicht gegen den Zaun. Der scharfe Gestank eines lange nicht gewaschenen Körpers schlug ihm entgegen.
»Gott schütze uns, Gott schütze uns«, murmelte die Landstreicherin. Ihre trüben Augen waren auf den Gartenweg gerichtet, über den soeben die Bahre mit der Leiche Grants zum vor dem Haus vorgefahrenen Krankenwagen getragen wurde. »Im Wald . . . im Dickicht verwandelt es sich, nimmt andere Gestalt an . . . Tod bringt es, Tod . . . Augen wie Kohlen, hu-hu-hu! Schnell fort, sonst beißt es dich tot. . .«
»Was ist denn das für eine Vogelscheuche?«, erkundigte Kolossow sich leise beim Inspektor. »Eine Obdachlose?«
Der tippte sich mit dem Finger viel sagend an die Stirn.
»Das ist Serafima Ostrouchowa. Blauäugelchen Sima, nennen sie hier alle. Sie ist übergeschnappt«, erklärte er. »Früher war sie bloß eine Quartalssäuferin, da hatte sie noch einen Funken Verstand, aber jetzt. . . Das sind die Promille in ihrem Blut, Genosse Major. Sie faselt nur noch unverständlichen Blödsinn.«
»Lüg nicht, Jewgenjitsch, erzähl deinem Vorgesetzten keine Märchen über Dinge, von denen du nichts weißt. Nicht der Wodka hat Serafima um den Verstand gebracht, sondern die Angst.«
Verdutzt blickte Kolossow die Frau an, die aus der Menge der Gaffer aufgetaucht war und sich ungeniert in ihr Gespräch einmischte – eine adrett gekleidete Alte in einem geblümten Flauschkittel.
»Ja, Serafima ist aus Angst verrückt geworden«, wiederholte sie überzeugt. »Das hat auch der Doktor im Krankenhaus gesagt. Irgendwer hat sie erschreckt. Wir haben sie ja schon bekniet, die Nachbarinnen und ich: Sag uns, was passiert ist, Serafima! Aber sie schweigt nur, blickt wirr um sich und brummt dauernd was vom Tod.« Die Alte bekreuzigte sich inbrünstig.
Kolossow beeilte sich, zum Wagen zu kommen. Der Tag hatte gerade erst begonnen, und er steckte bis zum Hals in Arbeit. Später dachte er noch oft darüber nach, wie es kam, dass wir vor lauter sinnloser Hektik manchmal gerade jene Dinge nicht beachteten, die wirklich wichtig und wesentlich waren.
4 Der Clan
»Es ist betrüblich, liebe Freunde, aber es lässt sich nicht leugnen: In letzter Zeit treffen wir uns hauptsächlich aus traurigen Anlässen wie hier und heute. Erneut
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