Der kalte Kuss des Todes
eine Schachtel Pralinen. Vor dem Toten hatte Kostik, wie er erklärte, überhaupt keine Angst. »Wieso denn, wo er sich gar nicht gerührt hat?«, fragte er verwundert.
Am herabhängenden Arm des Toten erspähte Lenja die besagte Uhr und wollte sie ihm sogleich abnehmen. Doch sein Bruder hielt ihn zurück: Das darf man nicht, das ist fremdes Eigentum! Es war nämlich so, dass die Brüder in der Kindheit öfters lange Finger gemacht hatten, bis ihre Mutter sie »heilte« – sie hatte die beiden nach Strich und Faden verdroschen, sobald eine dahingehende Beschwerde von den Nachbarn gekommen war. So hatte sie ihren Sprösslingen fürs ganze Leben eingebläut: Man darf nicht stehlen.
»Wir nehmen die Sachen und verbuddeln den Kerl«, schlug der findigere Lenja vor. »Den findet keiner. Und niemand wird’s sehen.« Die Brüder plünderten den Toten aus, hoben ihn von der Birke und zerrten ihn in die Sträucher. »Dort ist eine Schlucht, ein eingesunkener Schützengraben«, berichtete Sidorow. »Da haben sie ihn hineingeworfen, sind dann hinterhergeklettert, haben mit bloßen Händen ein Grab ausgehoben und Jakowenko dort verscharrt. Die Blutlache bei der Birke haben sie mit Zweigen und Erde abgedeckt. Ganz schön schlau für zwei solche Trottel. Die Sachen – die Sporttasche mit dem Sekt und den Pralinen, die Brieftasche und die Uhr – haben sie mitgenommen.« Über die Verletzungen, die der Tote aufwies, konnten die Listows nichts Konkretes sagen, außer: »Sein Kopf hat in alle Richtungen gebaumelt, wie an einem Faden.«
Mehr als sechs Stunden ununterbrochener Gespräche und guten Zuredens waren nötig, bis die Brüder sich an die Stelle erinnerten, wo sie den Mann vergraben hatten.
Kolossow traf am Sonntag gegen drei Uhr aus dem Präsidium an der Schlucht ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte man das Grab bereits geöffnet, und die genaue Untersuchung der Leiche war im Gange. Jakowenko hatte länger als einen Monat in der Erde gelegen, doch man konnte sein Gesicht noch erkennen. Der Pathologe erklärte, das Grab sei offensichtlich von Tieren des Waldes unterwühlt worden. »Höchstwahrscheinlich war da ein Dachs am Werk. Am Körper finden sich zahlreiche Bisswunden. Was die Todesursache betrifft – wie im Fall Antipow liegt ein mechanisches Trauma vor: Bruch der Halswirbel.«
Kolossow erkundigte sich, ob es eine offene Wunde am Hals gebe.
»Das Gewebe ist stark geschädigt. Es scheint wohl eine Wunde vorzuliegen, aber ich habe ja gesagt, vielleicht waren es Tiere . . . Genaueres wird das Gutachten zeigen.« Der Pathologe ließ sich auf keine Spekulationen ein.
Seine Kollegen aus der Abteilung für Spezialuntersuchungen nahmen Erdproben an der Birke und in der Schlucht und beschlagnahmten die Kleidung des Toten. Es galt, die Aussagen der Listows in sämtlichen Einzelheiten nachzuprüfen.
An jenem Abend blieb Kolossow auf dem Bezirksrevier und übernachtete dort. Am nächsten Morgen führte er ein Gespräch mit der Exfrau Jakowenkos, die in die Leichenhalle kam, um den Toten zu identifizieren; dann verhörte er persönlich die Brüder Listow und unterhielt sich mit den Eltern Jakowenkos, die nach Rasdolsk gekommen waren, sowie mit seinen Kollegen aus der Spezialeinheit »Sirene«.
Fünf von ihnen waren gekommen. Schweigend betraten sie sein »geborgtes« Büro, schweigend setzten sie sich.
»Hör mal, Major«, begann der dem Aussehen nach Älteste. »Du musst ihn finden, diesen Schuft. Andrej . . .« Die Stimme versagte ihm. »Andrjucha hat mit uns zusammen in Karabach gekämpft, in Tschetschenien. Kaum einen Kratzer hat er abbekommen, wurde mit Orden ausgezeichnet . . . und dann so was. Du musst den Mörder finden, Major. Und wenn es nicht genügend Beweise gibt, zum Teufel damit. Du brauchst uns nur seinen Namen zu sagen!«
Später, gegen Abend, sah Kolossow dann Katja. Sie stand am staubigen Fenster der Wachstube und blickte auf die ununterbrochen vorfahrenden Autos: Vertreter der Gebietsstaatsanwaltschaft, des Präsidiums, der Stadtverwaltung. Der dritte Mord in diesem ruhigen Bezirk – das war kein Scherz!
»Du hast völlig Recht, Nikita«, sagte Katja und unterdrückte einen tiefen Seufzer. »Irgendwas an dieser Sache ist faul. Nur hat es nicht erst mit dem Mord an Grant angefangen, sondern schon viel früher. Nicht wahr?«
Kolossow merkte, dass sie keine Antwort erwartete, fuhr sie aber trotzdem an: »Bist du immer noch auf der Suche nach knalligen Schlagzeilen für eine deiner Schauergeschichten?
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