Der kalte Kuss des Todes
klebrige Spinnwebe wegwischen. »Man hat Krebs der Bauchspeicheldrüse bei ihm festgestellt. Inoperabel, wie es hieß. Im April war er für kurze Zeit noch einmal in der Klinik. Nikita, sag mir um Gottes willen die Wahrheit: War es gar kein Unfall? Hat Vater selbst. . . hat er es selbst getan?«
Kolossow blätterte mit finsterer Miene in den zusammengehefteten Papieren.
»Möglich. Am Kabel sind neben der Bruchstelle der Ummantelung seine Fingerabdrücke gefunden worden. Dein Vater könnte diese Ummantelung absichtlich selber abgerissen haben. Du musst zugeben, sich in einer mit Wasser gefüllten Wanne zu rasieren, das ist. . . Schließlich hat er eine technische Ausbildung. Hier, die Ärzte schreiben, die bösartige Geschwulst war bereits in einem Stadium, dass ihm höchstens noch ein Monat oder weniger blieb. Er nahm doch schon schmerzstillende Medikamente, nicht wahr?«
Dmitri nickte. Er saß tief gebeugt da und erinnerte an einen großen aufgeplusterten Vogel mit zerbrochenen Flügeln.
»Vielleicht hat euer Vater sich vor einem qualvollen Tod gefürchtet und deshalb ein schnelles Ende gewählt. Ein elektrischer Stromschlag, augenblickliche Lähmung des Atemzentrums . . . Manche Menschen erschießen sich in einer solchen Situation, andere . . .«
»Darf ich um einen Gefallen bitten?« Dmitri blickte zu Boden. »Niemand außer unserer Familie und den nächsten Bekannten soll erfahren, dass Papa sich möglicherweise selber umgebracht hat. Es soll für alle anderen ein Unfall bleiben.«
Kolossow stand auf.
»Ich werde tun, was ich kann. Weitere Fragen an eure Familie haben wir nicht mehr. Ihr könnt den Toten aus der Leichenhalle abholen und ihn begraben, wie es sich gehört. Nur eine letzte Frage noch. Du und deine Brüder. . . Hattet ihr von Anfang an den Verdacht, euer Vater könne Selbstmord begangen haben?«
Dmitri ruckte krampfhaft mit dem Kopf.
»Deshalb habe ich ja gebeten, Stepan in Ruhe zu lassen«, sagte er heiser. »Für ihn ist das schlimmer als für alle anderen.«
Kolossow begleitete sie nach draußen auf den Hof. Neben Dmitris Auto erblickte Katja zu ihrer Überraschung Lisa Ginerosowa. Offenbar hatte sie sich mit Dmitri verabredet und war von der Datscha nach Rasdolsk gefahren. Sie stützte sich auf den Deckel des Kofferraums und trug merkwürdigerweise eine dunkle Sonnenbrille, obwohl es ein windiger, trüber Tag war, der gar nicht dazu einlud. Sie nickte Katja zu und sagte nur kurz und heiser: »Hallo.«
»Wir können sofort losfahren, Lisa«, sagte Dmitri. »Ich bringe dich nach Hause. Wo ist Stepan? Auf der Datscha?«
Lisa schüttelte den Kopf und schlüpfte rasch ins Auto. Die Brille nahm sie dabei noch nicht ab.
»Ich habe gehört, dein Bruder leitet hier in Otradnoje eine Sportschule oder so etwas. Es stört doch nicht, wenn ich in den nächsten Tagen dort mal vorbeischaue?«, fragte Kolossow im freundschaftlichsten Tonfall.
»Aber nein. Er hat sicher nichts dagegen. Vielleicht können wir auch zusammen. . .«
Weiter kam Dmitri nicht, weil plötzlich ein ohrenbetäubendes, gellendes Heulen ertönte. Ein kanariengelber Kleinbus der Miliz war vorgefahren. Inspektor Sidorow sprang heraus und zerrte eine wild schreiende Frau aus dem Innern des Wagens. Dem Aussehen nach war es eine Pennerin – schmutzig, abgerissen, mit zerrauftem Haar. Sie kreischte, schlug um sich, krallte sich an den Sitzen und der Wagentür fest.
»Was ist los?«, fragte Kolossow, als er in der Ruhestörerin die Landstreicherin Sima erkannte, die er auch schon in der Menge der Gaffer am Schauplatz des Grant-Mordes gesehen hatte.
»Vollkommen durchgedreht, die Alte.« Sidorow hatte es endlich geschafft und hielt die Landstreicherin mit der rechten Hand am Kragen gepackt. »Am helllichten Tag zieht sie sich auf der Bahnstation den Rock hoch und belästigt die Männer. Der Chef hat Anweisung erteilt, diesem obszönen Treiben ein Ende zu bereiten. Solange nicht entschieden ist, ob sie in die Psychiatrie eingewiesen wird, kommt sie zu uns.«
Die Landstreicherin war für einen Augenblick verstummt. Der Blick ihrer trüben Augen glitt über Kolossow, Katja und Sergej hinweg. Plötzlich fuhr sie zusammen und versuchte wie rasend, sich loszureißen.
»Werwolf!«, schrie sie und zeigte mit ihrem schmutzigen Finger auf Dmitri. »Er ist voller Blut. . . Haltet ihn, sonst ist er über alle Berge! Sein Fell hat er gewendet! Haltet ihn fest, lasst ihn nicht laufen, solange er Menschengestalt hat!« Schaum stand ihr vor den
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