Der kalte Schlaf
Polizei?«
Die Angst in seiner Stimme irritiert mich. Eigentlich sollte es ihn inzwischen nicht mehr erschrecken, wenn dieses Wort fällt. Man hat versucht, unser Haus niederzubrennen, am Dienstag wurde ich in Zusammenhang mit einem Mordfall vernommen. Es ist nichts Neues für Luke, dass die Polizei momentan Teil unseres Lebens ist.
»Du hast die Kinder also gebeten, der Polizei irgendwas zu verschweigen. Ich will gar nicht wissen, was es ist«, sagt er.
»Es ist andersherum.« Luke schaut so besorgt drein, wie ich es mir wünsche. Ich muss ihm klarmachen, dass es ernst ist. »Mehr sage ich nicht, bevor ich dein bedingungsloses Versprechen habe. Du wirst es niemandem sagen. Ich bitte dich nicht um meinetwillen.« Dinah hat niemandem etwas getan. Wenn Simon Waterhouse herausfindet, dass die geheimnisvollen Worte von ihr stammen, wird er sie befragen wollen, und der Gedanke macht mich ganz krank. Dinah und Nonie würden sich dann noch schlechter fühlen, und deshalb kann ich nicht zulassen, dass es dazu kommt, unter keinen Umständen.
Ich muss wohl wirklich ein so schlechter Mensch sein, wie ich selbst und Jo immer geargwöhnt haben. Ich würde zulassen, dass der Mörder von Katharine Allen unerkannt bleibt und unbestraft davonkommt, nur um meine Mädchen vor Schmerz zu bewahren. Nur dass es so einfach nicht ist, denn der Mörder von Katharine Allen hat auch Sharon getötet und mein Haus angezündet, obwohl er wusste, dass Dinah und Nonie darin schliefen. Wie viel Schmerz bin ich bereit zu erdulden – oder jemandem zuzufügen –, damit dieser Mensch bestraft wird?
Was für ein eigenartiges Gefühl, wieder schnell und strategisch denken zu können, ohne dass mir der Kopf wehtut.
»Sag es mir«, fordert Luke. »Wenn es im Interesse der Mädchen ist, dass ich es für mich behalte, werde ich es tun. Alles andere ist mir egal.«
»Lieb – Grausam – Liebgrausam«, sage ich. Ein Refrain, den ich seit Tagen vor mich hinsage, der Chor meines auf beängstigende Weise durcheinandergeratenen Lebens. Wird sein Echo jemals aufhören, in meinem Kopf widerzuhallen, werden diese Wörter jemals wieder ganz gewöhnliche Wörter werden? »Ich weiß, was das bedeutet. Dinah hat es mir erzählt.«
»Dinah?! Aber …«
»Sie hat es sich ausgedacht.«
Luke macht den Mund auf. Kein Ton kommt heraus.
»Das bedeutet nicht, dass sie irgendwas über den Mord weiß. Sie weiß ebenso wenig wie ich.«
Das ist nicht ganz richtig. Wenn du weißt, wer Kat Allen umgebracht hat, weiß Dinah weniger als du. Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich weiß gar nichts. Man kann nicht etwas wissen, das unmöglich wahr sein kann. Es ist unmöglich.
»Ich habe immer noch keine Ahnung, wo ich diese Worte auf dem linierten DIN-A4-Papier gesehen habe.« Ich hoffe, Luke kann das Zittern in meiner Stimme nicht hören. »Dinah schwört, dass sie und Nonie es nie irgendwo aufgeschrieben haben, und ich glaube ihr. Es war allerhöchste Geheimhaltungsstufe, also haben sie es nicht riskiert, irgendwas schriftlich festzuhalten. Die beiden haben die Listen im Kopf geführt.«
»Die Listen?«
»Ich hatte Recht, es sind Überschriften. LIEB …«
»Amber, nun mal ganz langsam. Ich kann dir nicht folgen.«
»Dinah hat sich ein Kastensystem ausgedacht«, erkläre ich. »Schau mich nicht so an. Willst du es nun wissen oder nicht?« Ich sollte es nicht an Luke auslassen, es ist nicht seine Schuld. »Letztes Jahr hatten sie in der Schule eine Projektwoche über die verschiedenen Religionen. Sie lernten etwas über das Kastensystem der Hindus, darüber, dass die wichtigen Leute ganz oben auf der Leiter stehen – die Brahmanen, stimmt’s? – und die Unberührbaren ganz unten, und dass sie keinen Umgang miteinander haben dürfen. Erinnerst du dich noch, wie Dinah ganz entrüstet nach Hause kam, wie falsch sie das fand?«
Luke nickte. »Noch mehr als Nonie.«
»Dinah stört Ungerechtigkeit nicht, solange sie auf der Seite der Privilegierten steht«, sage ich. »Wie sich herausstellte, fand sie nicht etwa das Kastensystem an sich ungerecht, dass manche Menschen einen höheren Stellenwert haben als andere, sondern die Zufälligkeit dieses Systems. Man wird in eine hohe oder niedrige Kaste hineingeboren und kann nichts tun, um seine Position zu verbessern. Dinah fand, ein Kastensystem wäre eine klasse Idee, wenn es darauf basierte, ob jemand gut und freundlich wäre oder eben fies und gemein. Ob seine Taten lieb oder grausam waren. Also beschloss sie, ein solches
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