Der kalte Schlaf
am Versiegen waren und Amber sich zusammenreißen würde.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Als ich Jo gestern befragte, wusste ich es plötzlich, genau wie Sie. Ohne zu verstehen warum, ohne vernünftigen Grund. Es gibt keine Beweise, aber das macht mir wenig Sorgen. Wir werden welche finden. Aber dass ich keine Ahnung habe, was das Motiv sein könnte, nicht einmal eine Theorie …« Ob er sie jetzt wieder ansehen konnte? Simon beschloss, es zu riskieren. »Genau wie Sie weiß ich, dass Jo es war, aber ich habe keine Ahnung, warum sie es getan hat. Es muss ein Motiv geben. Niemand begeht drei schwere Verbrechen, zwei davon Morde, ohne ein Motiv zu haben.« Er fluchte leise und bereute es sofort. Er wollte Amber gern glauben machen, dass er dieses Durcheinander einigermaßen im Griff hatte.
Erst erreichten ihn ihre nächsten Worte gar nicht, so unerwartet kamen sie. »Ich weiß, was ›Lieb – Grausam – Liebgrausam‹ bedeutet.«
Simon hörte zu, wie vor den Kopf geschlagen, als sie anfing, es zu erklären. Bei jedem anderen wäre er wütend geworden, aber Amber hatte von Anfang an auf einer Spezialbehandlung bestanden, und er hatte sich reinlegen lassen und geglaubt, dass sie es verdient hatte. Warum hatte sie es ihm nicht sofort gesagt, nachdem sie es herausgefunden hatte? Aber sie machte es wieder wett, indem sie alles haarklein erzählte. Dinahs und Nonies Schule, ihre politisch korrekte Schulleiterin und die Projektwoche über die Weltreligionen, das Kastensystem der Hindus, das Dinah inspiriert hatte, ein eigenes Kastensystem zu entwickeln. Amber unterbrach ihren Bericht ständig, um anzumerken, dass ihm das alles nicht helfen würde, und dass sie sich noch immer nicht erinnern könne, wo sie das Blatt Papier gesehen hatte, das möglicherweise von dem Block in Kat Allens Wohnung abgerissen worden war.
Interessant, dass sie es für notwendig hielt, das so oft zu wiederholen. Er hatte sie selbst zu Ginny sagen hören, dass sie sicher war, den linierten Zettel in Little Orchard gesehen zu haben. Er hatte gehört, wie sie die irrationale Idee eingestand, dass sie ihn in dem verschlossenen Arbeitszimmer finden würde, wenn sie dort nur hineingelangen könnte. Hatte sie das vergessen? Ginny hatte am Anfang der Sitzung betont, dass Hypnose keine negativen Auswirkungen auf das Gedächtnis oder die Selbstkontrolle hatte. Man wusste, was man sagte und tat, und man erinnerte sich hinterher daran.
Simon überlegte gerade, ob Dinah und Nonie Lendrim am Tag des Mordes in Kat Allens Wohnung gewesen waren und »Lieb – Grausam – Liebgrausam« auf einen Block geschrieben hatten, als Amber sagte: »Die Mädchen haben mir geschworen, dass sie die Worte nie aufgeschrieben haben. Nie, nirgendwo. Dinah könnte lügen, um keine Probleme zu bekommen, aber Nonie nicht.«
Wenn sie behauptet hätte, beide Kinder würden nie lügen, hätte Simon ihre Meinung einfach abgetan. Aber so glaubte er ihr. Aber wenn die Mädchen es nicht gewesen waren …
»Sie haben es zwei Leuten erzählt und sie schwören lassen, es geheim zu halten.«
»William und Barney Utting«, sagte Simon. Er wollte ihr beweisen, dass er selbst darauf gekommen war, blöd von ihm. Er dachte an Williams Erklärung transitiver und intransitiver Relationen. Dinah erzählt Nonie ein Geheimnis, Nonie erzählt William ein Geheimnis, William erzählt Barney ein Geheimnis … Bedeutete das, dass Dinah Barney ein Geheimnis erzählt hatte? Indirekt ja, direkt nein. War »ein Geheimnis erzählen« also transitiv oder intransitiv? Hing davon ab, ob es dasselbe Geheimnis war. »Jos Söhne«, fügte er hinzu. »Wir kommen immer wieder auf Jo zurück.«
»Als Kat Allen ermordet wurde, waren Herbstferien«, erklärte Amber. »An dem Tag fand das Verkehrserziehungsseminar statt. Jo war damit beschäftigt, ich zu sein. Sabina wird auf die beiden Jungs aufgepasst haben. Aber … könnte es eine Frau gewesen sein?«
»Was, die Kat Allen umgebracht hat? Glauben Sie, es war Sabina, dass Jo sie dazu aufgefordert hat?«
»Nein, ich …« Amber sah verwirrt aus und hörte sich auch so an. »Niemand, der einen Mord begehen will, würde zwei Kinder mitnehmen. Insbesondere nicht Sabina. Ich weiß, es klingt verrückt, schließlich ist sie eine ausgebildete Nanny, aber alleine kommt sie nicht gut mit Kindern klar. Sie ist dann gestresst und gerät unter Druck. Es fällt nie jemandem auf, weil Jo fast immer da ist, um den Druck wegzunehmen, und Sabina freistellt, damit sie
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