Der kalte Schlaf
Fahrersitz, blättere in ihrem Notizbuch …
»Er war in meiner Jackentasche«, rufe ich. »Er muss mir herausgefallen sein, als ich …« Das Sprechen fällt mir schwer. Ich starre auf den Zettel, auf dem Ginnys Adresse steht, und beginne zu zittern. Er ist liniert, blaue Linien, eine rosa Linie markiert den Rand.
Charlie dreht das Blatt Papier um, sodass Simon und ich die andere Seite sehen können: die drei Überschriften in einer Handschrift, die nicht die meine ist, schwarze Tinte, nicht die blaue, mit der ich Ginnys Adresse geschrieben habe: »Lieb – Grausam – Liebgrausam«.
Jetzt fällt es mir wieder ein.
*
»Wann war das?«, fragt Simon mich.
Auf diesem Sessel saß ich auch am zweiten Weihnachtstag 2003, als Jo uns erklärte, es gebe nichts, was sie uns verschweigen würde, gar nichts. Die andere Frau, Liv, reicht mir einen Drink, um den ich nicht gebeten habe. Ich nehme einen Schluck. Brandy. »Vorletzten Mittwoch«, sage ich. Vor einer Woche und zwei Tagen. Simon kann sich das Datum ausrechnen.
»Erzählen Sie. Ausführlich«, sagt er.
»Ich war bei Jo. Wir fahren jeden Mittwoch zu ihr, ich und die Mädchen.« Kann sein, dass ich das bereits erwähnt habe, vielleicht hatte ich aber auch nur die Absicht, das zu tun. »An jenem Morgen hatte ich beschlossen, irgendwas gegen meine Schlaflosigkeit zu unternehmen. Eine ganze Reihe von Leuten hatte Hypnose empfohlen, und ich dachte, ich kann es ja mal ausprobieren. Jo fand auch, dass es eine gute Idee war. Für die Suche habe ich ihren Laptop benutzt.«
»Für die Suche nach …?« Simons Stift schwebt über seinem aufgeschlagenen Notizbuch.
»Hypnotherapeuten im Culver Valley. Ginny war die Einzige, deren Praxis in Great Holling lag. Die anderen hatten alle weniger anheimelnde Adressen. Ich dachte, ich gönne es mir, irgendwo hinzugehen, wo es nett ist.«
»Haben Sie diesen Aspekt Ihrer Überlegungen Jo gegenüber erwähnt?«, fragt Simon.
»Sie wollte wissen, wie ich mich für einen Therapeuten entscheiden wollte, so ganz ohne weitere Informationen, und ich sagte: ›Der mit der besten Adresse muss auch der Beste sein.‹ Ich war nicht wirklich dieser Ansicht …«
»Warum haben Sie es dann gesagt?«
Es ist doch kein Problem zu antworten. Sollte es jedenfalls nicht sein. Ich kenne die Antwort. Ich kenne sie nur zu gut. Die Antwort hierauf ist so tief in meinem Bewusstsein verwurzelt, dass ich es nie in Worte fassen musste. Ich spiele ein seltsames Gesellschaftsspiel in diesem Raum, in dem sich vor sieben Jahren alle zu Lukes Weihnachtsquiz versammelten. Alle außer mir und William – wir suchten nach dem Schlüssel zum Arbeitszimmer.
Wissen William und Barney, dass ihren Eltern dieses Haus gehört? Haben Jo und Neil ihren Söhnen das Lügen antrainiert, oder werden sie belogen wie wir anderen? Bleibt das Arbeitszimmer auch für sie verschlossen? Haben sie die Familienfotos im Bücherregal gesehen?
»Amber«, sagt Simon. »Warum haben Sie Jo einen falschen Grund dafür genannt, dass Sie sich für Ginny entschieden hatten?«
»Ich glaube, ich war nervös. Ich wollte zum ersten Mal zu einem Therapeuten gehen und mich hypnotisieren lassen. Ich hoffte, die Erfahrung würde ein klein wenig erfreulicher werden, wenn ich irgendwo hinfuhr, wo es schön war. Es war sicher albern von mir, anzunehmen, ich könnte so eine Art Ausflug daraus machen …«
»Eine Hoffnung, auf der Jo sicher herumgetrampelt hätte«, errät Simon ganz richtig.
Ich nicke. »Ich bekam trotzdem einen auf den Deckel. Es sei lächerlich und unverantwortlich, auf dieser Grundlage einen Therapeuten auszusuchen.«
»Aber Sie waren geschützt. Jo griff den falschen Grund an, den Sie hochgehalten hatten wie einen Schild.«
Liv macht den Mund auf, um etwas zu sagen. Charlie, die neben ihr auf dem Sofa sitzt, klopft ihr leicht auf den Arm. Obwohl ich keine Schwester habe, erkenne ich diese Art, einem Menschen, den man nur zu gut kennt, zu bedeuten, dass er den Mund halten soll.
Was macht Charlies Schwester hier? Was machen wir alle hier?
»Ich tat so, als hätte Jo mich überzeugt«, sage ich zu Simon. »Ich zeigte ihr die Liste von Hypnotherapeuten und fragte sie, wen ich wählen sollte. Sie suchte einen in Rawndesley aus, ganz in ihrer Nähe. Sobald sie das Gefühl hatte, ihren Willen durchgesetzt zu haben, verlor sie das Interesse und machte sich wieder ans Kochen. Da lag …«
Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich versuche es noch einmal. »Neben dem Computer lag ein
Weitere Kostenlose Bücher