Der kalte Schlaf
Zettel. Ein leeres Blatt liniertes Papier, dachte ich jedenfalls. Es war zerknittert und sah aus wie irgendein Schmierzettel. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass auf der anderen Seite etwas stehen könnte. Ich schrieb Ginnys Adresse und Telefonnummer darauf und steckte den Zettel in meine Handtasche. Am nächsten Tag habe ich Ginny vom Büro aus angerufen und einen Termin vereinbart. Ich erinnere mich nicht, die Worte auf der Rückseite gesehen zu haben, aber das muss ich wohl.«
»Wenn wir etwas für unwichtig halten, registrieren wir es oft gar nicht bewusst«, sagt Charlie. »Ginnys Adresse lag seit Dienstagabend im Fußraum meines Autos. Ich habe es gesehen, ohne es richtig wahrzunehmen. Gerade eben erst wurde mir klar, dass ich Ginnys Adresse gar nicht aufgeschrieben hatte. Und dass es blauliniertes Papier war.«
»Sie hatten Recht«, sagt Simon. »Es gab eine Verbindung zwischen Little Orchard und diesem Stück Papier. Jo war die Verbindung. Der Zettel stammte aus Jos Haus. Und Little Orchard ist ebenfalls Jos Haus, ihr anderes Haus. Wenn Ginny Recht hat und Sie das auf irgendeiner unbewussten Ebene ahnten …«
»Kirsty.«
»Was ist mit ihr?«, fragt Simon.
»Sie ist auf keinem der Fotos zu sehen. Im Arbeitszimmer. Alle anderen mehr als einmal. Sogar ich.«
»Sind Sie sicher?«
Ich eile ihm bereits voraus, zu weit voraus, um zu antworten. Jo hätte ihre Schwester auf keinen Fall unabsichtlich ausgeschlossen. Sie wird die Fotos, die sie aufgestellt hat, sehr sorgfältig ausgesucht haben.
»Nach Kirsty wollte ich gerade fragen«, sagt Charlie. »Die Mutter, Jos und Kirstys Mutter, wie hieß sie nochmal?«
»Hilary«, antwortet Simon.
»Es war die Rede von Jo und Ritchie, als es um ihr Testament ging, aber nicht von Kirsty. Wird sie nichts erben?«
»Weiß ich nicht«, erwidert Simon ungeduldig. Er zieht sein Handy aus der Tasche, ohne es zu benutzen. »Sie ist so hilflos wie ein Baby. Geld ist ihr egal, sie weiß nicht mal, was das ist.«
Charlie lacht. »Simon, vielleicht sehnt sie sich nicht nach einem Ferrari, aber es wird ziemlich viel Geld für ihre Pflege aufgewendet werden müssen, oder? Vollzeitpflege, ein Pflegeheim – ich weiß nicht genau was, aber ich bin mir ziemlich sicher, je behinderter man ist, desto teurer wird es. Hilary muss daran gedacht haben. Sie muss Kirsty in ihrem Testament bedacht haben.«
Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen.
Simon starrt Charlie an. Unentwegt, als sei er in Trance gefallen.
Charlie versucht es noch einmal. »Wurde Kirsty bei all den Diskussionen über Hilarys Testament denn überhaupt nicht erwähnt?«
»Brustkrebs«, sagt Simon ruhig.
»Das kann nicht die Antwort auf meine Frage sein. Versuch’s noch mal.«
Liv und ich könnten ebenso gut nicht da sein. Die beiden haben sich in ihrem eigenen privaten Universum eingeschlossen.
»Amber lag ganz richtig mit dem, was sie zu Ginny sagte.«
Rede nicht über mich, als sei ich nicht da.
»Kirsty kann nicht sprechen, nicht richtig denken. Die Leute behandeln sie, als wäre sie gar nicht da. Sie vergessen sie. Mich eingeschlossen. Ich habe nur an Jo und Ritchie gedacht. Werden sie Hilarys Haus verkaufen und sich den Erlös teilen? Wird Jo ihre Hälfte Ritchie übergeben, wenn Hilary nicht mehr da ist? Wird sie nochmal versuchen, ihre Mutter zu überreden, alles Ritchie zu hinterlassen, und warum will sie das? Niemand ist dermaßen großzügig. An Kirsty habe ich gar nicht gedacht.« Simon schüttelt den Kopf, verärgert über seine eigene Dummheit. »Aber sie war auch da, am Heiligabend.«
»Am Heiligabend?«, fragt Liv.
»Auch Kirsty ist Hilarys Kind«, fährt Simon fort. Er sagt das bedeutsam, aber die Bedeutung kommt bei uns nicht an. Es gibt da einen Übertragungsfehler, den er nicht zu bemerken scheint. Selbst Charlie wirkt verwirrt. Wir schauen ihn schweigend an, wir drei, und keiner wagt zu sprechen. Er erinnert mich an einen Computer, der versucht, zu viele Daten auf einmal zu verarbeiten, und der abstürzen könnte, wenn man noch ein einziges Kommando hinzufügt.
Als er wieder das Wort ergreift, wendet er sich an mich. »Erinnern Sie sich, Ginny meinte, Sie würden annehmen, Kirsty könne irgendwas wissen. Sie kann nichts wissen. Glauben Sie, sie täuscht ihren Hirnschaden nur vor?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich dachte nur …« Gibt es noch irgendeinen Gedanken, irgendein Gefühl, das ich für mich behalten darf?
»Es ist mir egal, wenn Sie etwas über eine Behinderte gedacht
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