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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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– wichtiger, als dass ich mir das Notizbuch dieser blöden Frau angesehen habe«, zische ich. »Da drin sind zwei kleine Mädchen, die auf keinen Fall merken dürfen, dass Sie von der Polizei sind. Einverstanden? Falls Sie sie sehen sollten, verkaufen Sie irgendwas: Doppelverglasung, Federstaubwedel, egal was.«
    »Lieb – Grausam – Liebgrausam«, sagt er, und wieder ereilt mich dieses zermürbende Gefühl, das ich schon hatte, als ich vor Ginnys Haus ertappt wurde. Irgendwas stimmt nicht. Seine Reaktion ist sonderbar. Warum sagt er mir nicht einfach, dass es ein schweres Vergehen ist, sich irgendwelcher Dinge zu bemächtigen, die in einem fremden Auto liegen? Warum zitiert er diese seltsamen Worte? Dann wird mir klar, was mich so irritiert: Das hier gibt es eigentlich nur im Traum. Ein Unbekannter spricht einen vor dem Haus an und spricht genau die Worte aus, die einem unablässig im Kopf herumgehen.
    »Was bedeutet das?«, fragt er. In einem Traum würde keiner von uns beiden wissen, was diese Worte bedeuten.
    »Da fragen Sie die Falsche«, entgegne ich.
    »Amber?« Ich schaue über seine Schulter und sehe Luke, der rasch auf uns zusteuert. Er spürt wohl, dass etwas nicht stimmt. Der Gedanke, dass wir jetzt zu dritt sind – und zwei davon auf meiner Seite –, ermutigt mich auf eine irrationale Weise. Luke riecht nach Schweiß und nach dem Staub, der seine Haut und seine Kleidung bedeckt; er war den ganzen Tag im Steinbruch.
    »Der Mann ist von der Polizei«, erkläre ich. Das letzte Wort forme ich nur mit den Lippen. »Geh schon mal rein und behalte die Kinder im Auge. Sag ihnen, dass ich mit einem Kollegen spreche.«
    »Was ist los?«, fragt er uns beide, als hätten wir uns gegen ihn verschworen.
    »Ich muss mit Ihrer Frau sprechen«, erklärt DC Gibbs. An mich gewandt, fügt er hinzu: »Sie können freiwillig mitkommen oder ich nehme Sie fest – Ihre Entscheidung.«
    »Mich festnehmen?« Ich lache. »Um mich darüber zu befragen, warum ich in das Notizbuch irgendeiner Frau gesehen habe?«
    »Um Sie zu fragen, was Sie über den Mord an Katharine Allen wissen«, sagt er.

 
    Was ist der Unterschied zwischen einer Geschichte und einer Legende? Zu welcher Kategorie gehört Little Orchard? Ich würde sagen, eindeutig in die Kategorie »Legende.« Zum einen hat es einen Namen: Little Orchard. Diese beiden Worte sind mehr als der Name eines Hauses in Surrey. Sie reichen aus, um eine komplexe Folge von Ereignissen und ein noch vielschichtigeres Bündel von Meinungen und Emotionen heraufzubeschwören. Und wenn ein gedankliches Kürzel für ein Ereignis aus unserer Vergangenheit existiert, ist das immer ein Hinweis darauf, dass die Geschichte zur Legende geworden ist.
    Spielt es eine Rolle, dass alle Menschen, die diese Legende kennen – abgesehen von einer italienischen Nanny –, zur selben Familie gehören? Ich glaube nicht. Für alle diese Menschen ist sie etwas Wesentliches. Und sie wird immer etwas Wesentliches bleiben. Sie ist einmalig: eine ausgeblendete Geschichte, die einer stillschweigenden Übereinkunft zufolge niemals erwähnt werden darf. Und ich vermute, dass sie dadurch einen größeren Raum in den Gedanken all dieser Menschen einnimmt, als wenn offen über sie gesprochen werden dürfte. Es ist zweifellos die faszinierendste Geschichte, die die Familie zu bieten hat – ein Rätsel, das vermutlich nie gelöst werden wird. Nach nunmehr sieben Jahren hat es jedenfalls noch keinerlei Fortschritte gegeben, das Rätsel zu lösen, und die Frage nach den Gründen dafür ist fast so interessant wie das Geheimnis selbst.
    Zunächst sollten wir uns den genauen Ablauf ansehen. Und das hat kaum jemand mehr getan, seit Little Orchard den Status einer Legende hat. Wenn eine Geschichte zu einer Legende wird, wird durch das gedankliche Kürzel meist nicht mehr abgerufen, was wirklich geschah, Schritt für Schritt – das wäre viel zu arbeitsintensiv –, sondern nur eine passende Verpackung, die das Ganze umhüllt. Für Little Orchard drängen sich dabei verschiedene Verpackungskonzepte auf: »Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren«, »Das zeigt mal wieder, dass man einen Menschen nie richtig kennt, ganz gleich, wie nahe man ihm zu sein glaubt«, möglicherweise sogar das verräterische »Es ist besser, wenn wir es nie erfahren«, denn viele Menschen stehen in einem heimlichen Einvernehmen mit der Person, die versucht, sie zu täuschen.
    Verstehen Sie, was ich damit sagen will?
    Ich möchte die Little
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