Der kalte Schlaf
zu schreien.
Ich denke an den Brief vom Jugendamt, der auf dem Küchentisch liegt, und mein Herz macht einen Satz. Unter keinen anderen Umständen würde mich die Aussicht verlocken, ihn zu lesen, aber im Augenblick ist es eine Chance, nicht verrückt zu werden. Wenn ich ihn jetzt lese, wird mich das genauso aufregen, als würde ich ihn mitten am Tag lesen, und genau das ist es, was ich will: einen Grund zur Sorge, der nicht nachtspezifisch ist.
Ich gehe in die Küche, setze mich an den Tisch, sodass ich den Blick von der digitalen Zeitanzeige der Mikrowelle abwende, die mich nur zu gern daran erinnern würde, dass es achtunddreißig Minuten nach zehn ist – und ziehe das Schreiben aus dem Umschlag. Eine Postkarte fällt heraus und landet mit der Bildseite nach oben – eine typische Ingrid-Karte aus irgendeiner Kunstgalerie: eine Gruppe Nonnen, die im Garten unter Bäumen sitzen. Ich greife erst nach der Karte und lese sie. »Nur nicht verzweifeln«, steht da. »Die Drohung mit den Schulgebühren dient eindeutig nicht dem Kindeswohl. Das kann uns nur nützen. M. hat sich damit nur selbst geschadet! Wir werden gewinnen!«
Ich seufze. Ingrid, unsere Betreuerin beim Jugendamt, kämpft jetzt seit Monaten zusammen mit Luke um den ersten Preis für unbegründeten Optimismus. Ich habe es aufgegeben, die beiden zwingen zu wollen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die so aussieht, dass wir möglicherweise gewinnen werden, möglicherweise aber auch nicht. Denn es lässt sich unmöglich vorhersagen, wie es ausgehen wird.
Ich lese das offizielle Schreiben und erfahre, was ich bereits aus Ingrids Postkarte geschlossen hatte: Marianne droht damit, die Schulgebühren für die Mädchen nicht länger zu übernehmen, wenn Luke und ich sie adoptieren dürfen. Na und? Wir werden das Geld schon selbst aufbringen, irgendwie. Ich fälsche mir eine Urkunde und arbeite nachts als Hypnosetherapeutin – wach bin ich ja sowieso. Ich werde den Leuten achthundertvierzig Pfund für das Privileg abknöpfen, mir ihre Erinnerungen erzählen zu dürfen.
Dinah und Nonie lieben ihre Schule. Wie kann Marianne, diese alte Hexe, uns androhen, ihnen das wegzunehmen, obwohl sie weiß, was die beiden bereits verloren haben? Vermutlich liegt die Erklärung in ihrem Namen – in dem Zusatz »diese alte Hexe«.
Wenn Luke hier wäre, würde er mich daran erinnern, dass ich selbst vorhin angekündigt habe, die Tage der Mädchen an dieser Schule seien gezählt. Er versteht nicht, dass es zwei Kategorien gibt: Dinge, über die ich mich gern aufrege und über die ich mich endlos auslassen kann, und Dinge, die ich wirklich hasse, wie Marianne – über die spreche ich nur, wenn es gar nicht anders geht, und ich versuche, nicht einmal an sie zu denken.
Abgesehen von dem unerwarteten Detail mit den Schulgebühren, enthält der Brief vom Jugendamt lediglich die Information, die Luke und ich erwartet hatten: Marianne hat offiziell Widerspruch gegen die Adoption eingelegt. »Ich finde es einfach nicht richtig – ihr seid nicht die Eltern der Kinder.« Mehr war sie nicht gewillt, zu dem Thema zu sagen. »Es sind Sharons Kinder, nicht eure.« Wir haben versucht, darauf hinzuweisen, dass Dinah und Nonie immer Sharons Kinder bleiben werden, egal, ob Luke und ich sie adoptieren oder nicht. Außerdem, bemerkten wir, dass es eine notwendige Voraussetzung und kein Hindernis sei, nicht die Eltern der Kinder zu sein, die man zu adoptieren hofft. Aber Marianne schaute nur an uns vorbei und schüttelte den Kopf, mechanisch und zu schnell, als hätte jemand sie aufgezogen.
Ich glaube nicht, dass ich jemals jemanden töten oder umbringen lassen würde – es sei denn, Dinahs oder Nonies Leben wäre in Gefahr –, aber ich würde jubeln, wenn Marianne Lendrim morgen tot umfallen würde. Ehrlich gesagt bräuchte sie gar nicht so lange damit zu warten, wie wäre es gleich mit heute Nacht? Vermutlich sollte ich mich schuldig fühlen, weil ich mir wünsche, dass es sie nicht mehr gibt, aber ich fühle mich nicht schuldig. Meine Aufgabe als Dinahs und Nonies Vormund ist es, sie vor allem zu bewahren, was ihnen schaden könnte: Im Moment ist es eben ihre einzige Großmutter, die noch lebt, später werden es Alkohol, Drogen, Tattoos und Piercings sein, die sie später bereuen würden, sowie Aufenthalte in unsicheren Ländern vor dem Studium.
Ich schiebe das Schreiben vom Jugendamt und Ingrids Karte in meine Handtasche und lasse den zerrissenen Umschlag auf dem Küchentisch liegen,
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