Der kalte Schlaf

gewesen wäre und mich nicht wie eine Verbündete behandelt hätte, hätte ich dann auch das Gefühl, es ihm schuldig zu sein, die ganze Wahrheit zu sagen? Würde ich ebenso angestrengt versuchen, mich zu erinnern, wo ich dieses Blatt Papier gesehen habe?
    Ich glaube nicht.
    Wie lange stehe ich schon vor der Tür von Nonies Zimmer? Bestimmt nicht mehr als eine Minute, aber alles zählt. Jede Sekunde bringt mich dem Morgen näher und damit dem Zeitpunkt, von dem an ich wieder Teil einer Familie sein werde, nicht länger ein sich windendes Hirn in einem angespannten Körper, ein Spuk, der die Nächte normaler Menschen mit seiner Schlaflosigkeit stört.
    Das Stockwerk der Mädchen riecht nach dem Blütenduft des Weichspülers. Ich wasche ihre Laken exakt einmal in der Woche. Als ich das Jo erzählte, lachte sie und sagte: »Es ist normal, Bettwäsche einmal die Woche zu waschen, Amber. Das ist nichts, mit dem man angeben könnte.«
    Ich trete in Nonies Zimmer, um nach ihr zu sehen. Wie immer liegt sie zusammengerollt auf der Seite wie ein Fragezeichen, ihr Mund steht leicht offen, den rechten Arm hat sie ordentlich über die Bettdecke gelegt. Neben ihrem Kopf liegt das dicke Lexikon, das wir ihr zum Geburtstag geschenkt haben, und vor der Wand aufgereiht sitzen ihre Kuscheltiere: ein Bär, ein Einhorn, ein Kaninchen, ein Panda, eine Eule, die eine mehr als flüchtige Ähnlichkeit mit einem Darts-Spieler hat, den ich mal im Fernsehen gesehen habe.
    Nonies Zimmer ist voller Gegenstände, die in Reihen angeordnet sind: auf dem Schreibtisch, in den Regalen, ein paar auf dem Teppich. Es ist ihr egal, welche Gegenstände es sind, solange sie genug davon in die Finger bekommt, um sie in Reihen anzuordnen: Papier-3D-Brillen aus dem Kino, Fläschchen mit Schaumbädern und Duschgel, Ringe mit buntem Glas, anstelle von Edelsteinen, Murmeln, Haarbänder, Töpfchen mit Lippenbalsam. Nonies Lippen sind immer aufgesprungen.
    Tränen steigen mir in die Augen, gefolgt von der üblichen Verwirrung. Es erinnert mich daran, dass Liebe ein viel gefährlicheres Gefühl sein kann als Hass, dass man viel mehr dabei riskiert. Es muss eine Verbindung zwischen beiden geben – zwischen der großen Liebe zu Nonie und Dinah und dem unkontrollierbaren Zorn, der oft ohne ersichtlichen Grund in mir aufsteigt. Bevor Sharon starb, habe ich solch starke Gefühle nicht gekannt, weder positive noch negative.
    Ich schleiche auf Zehenspitzen zum Bett und küsse Nonie auf die Wange, bevor ich zu Dinahs Zimmer weitergehe. Es ist etwas schwieriger, hier etwas zu erkennen, da kein Licht brennt, aber meine Augen passen sich bald an. Dinahs Daunendecke liegt zusammengeknüllt am Fußende des Betts, als hätte sie sie vor dem Einschlafen kräftig getreten. Ihr Mund steht weit offen. Mir kommt der Gedanke, dass Dinah und Nonie die einzigen Menschen auf der Welt sind, denen ich ihren gesunden Schlaf nicht missgönne. Ich bin froh, dass sie so gut schlafen. Mit Freuden würde ich nie wieder ein Auge zutun, wenn ich ihnen damit für immer Nächte mit ungestörtem Schlaf und friedlichen Träumen garantieren könnte.
    Du bist froh, dass sie hier sind. Du könntest dir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen – kein lebenswertes Leben jedenfalls. Das heißt, in gewisser Weise bist du froh darüber, dass Sharon tot ist. Das heißt es doch wohl, oder?
    Nein.
    Würdest du Sharon zurückbringen, wenn du es könntest, obwohl du weißt, dass Dinah und Nonie dann wieder zu ihr zurückkehren würden?
    Ich stelle mir diese Frage jede Nacht. Meine Antwort ist immer dieselbe: ja, natürlich würde ich das. Aber ich kann nicht aufhören, es zu überprüfen. Ich muss mir ständig selbst beweisen, dass ich kein schlechter Mensch bin, so verkorkst und schuldbeladen ich auch sein mag. Genau, Leute. Hängt nachts mit Amber Hewerdine rum, dann ist endloser Spaß garantiert.
    Dinah ist es egal, wie ihr Zimmer aussieht, solange sie immer genug Wandfläche hat, um dort Zettel mit Tesafilm zu befestigen. Nichts zählt für sie, solange und bis sie es nicht aufgeschrieben hat. Als ich an ihr Bett trete, um ihr einen Kuss zu geben, fällt mir ein langer Papierstreifen mit abgerissenen Rändern auf, der an einem der Vorhänge befestigt ist. Ich ziehe den anderen Vorhang ein wenig zurück, um mehr Licht von der Straßenlaterne hereinzulassen, und stelle fest, dass ich auf eine Besetzungsliste blicke. Unter Dinahs Kopfkissen ragt ein Stift hervor, der gestern noch nicht dort lag.
    Die Liste