Der kalte Schlaf
paar eigene Beobachtungen hinzufügen und die fehlenden Details ergänzen, indem ich ein paar intelligente Vermutungen anstelle. Dabei stütze ich mich auf Dinge, die Amber in dieser Sitzung und heute Morgen, als wir miteinander allein waren, erzählt hat. Wenn man eine Geschichte erzählt, macht man es am besten richtig, man macht sie lebendig. Das werde ich versuchen, und ich möchte wetten, dass meine Geschichten so viel Wahrheit enthalten, als würde ich etwas schildern, von dem ich glaube, ein objektives Wissen zu haben.
Amber, vergessen Sie, dass es Ihre Geschichten sind, und hören Sie einfach zu. Denken Sie daran, eine Geschichte ist keine Erinnerung, eine Erinnerung ist keine Geschichte. Jede Geschichte enthält Erinnerungen, aber Interpretationen und Analysen stülpen wir den Ereignissen erst später über. Diese können nicht als Erinnerungen bezeichnet werden.
Zweiter Weihnachtstag 2003. Jo, Neil und ihre beiden Söhne sind unbeschadet zurückgekehrt. Jo hat alle versammelt und verkündet, dass alles gut ist, weigert sich aber zu erklären, warum sie, ihr Mann und die Kinder verschwunden sind und damit den Weihnachtstag, einen Tag, der glücklich und festlich hätte sein sollen, in ein Trauma für alle Personen verwandelt hat, die ihnen nahestehen. Auf den ersten Blick nehmen es alle hin, dass keine Erklärung geliefert wird. Alle stimmen Jos Idee zu, den zweiten Weihnachtstag zum Hauptfesttag zu machen. Also werden die Geschenke ausgepackt, überall liegt zerrissenes Geschenkpapier herum, es ist ein einziges Chaos, und dann gilt es ein Festmahl für elf Personen zu kochen – und das macht Jo alleine. Amber glaubt mittlerweile, dass die Betriebsamkeit ihrer Schwägerin, die ganz allein dieses üppige Truthahnessen zubereitete, jede Hilfe ablehnte und behauptete, dass sie viel effizienter arbeiten könne, wenn sie die große Küche für sich habe, einen einzigen Grund hat: Wenn man so tut, als würde man sich für das Wohl aller abrackern, wird niemand auf die Idee kommen, dass man das eigentlich nur macht, um potentiell problematische Gespräche zu vermeiden.
Was machen die anderen, während Jo das perfekte Weihnachtsmahl zubereitet? Neil ist oben und hält seinen Mittagsschlaf, wie alle es nennen, obwohl er so lange schläft, dass Amber vermutet, dass er in den letzten beiden Nächten nur wenig oder keinen Schlaf abbekommen hat. Luke sitzt mit Notizblock und Stift in einer Ecke und nimmt in letzter Minute ein paar Änderungen an seinem Weihnachts-Quiz vor. Sein Vater Quentin langweilt Ritchie mit einer seiner endlosen, komplizierten Geschichten – diesmal geht es um einen Klärbehälter und verschiedene erfolglose Versuche, ihn einzubauen –, und Ritchie hat keine Ahnung, wie er sich loseisen soll. Sabina versucht mit allen Mitteln, das schreiende Baby zu beruhigen – sie trägt es herum, sie wiegt es hin und her, sie legt es flach auf den Rücken.
Hilary gibt unerwünschte Ratschläge. Jo solle endlich Vernunft annehmen und mit dem Stillen aufhören, sagt sie zu Sabina. Barney habe schon wieder Hunger, obwohl er gerade erst getrunken habe, und deshalb schreie er. Babys, die gestillt würden, seien hungrig und unzufrieden, meint Hilary. Sie schreien ständig und schlafen nie – da könne sie jede Hebamme fragen. Natürlich seien die verpflichtet, etwas anderes zu sagen, die offizielle Linie zu vertreten, aber wenn man sie fragt, was sie wirklich denken … Sabina entgegnet, das sei Jos Entscheidung, ihr brauche Hilary das nicht zu sagen. Zufällig ist Sabina Hilarys Meinung. Sie hat schon auf Dutzende von Babys aufgepasst, und für sie besteht kein Zweifel daran, dass Babys, die die Flasche bekommen, zufriedener sind und besser schlafen. Ihre Mütter sind glücklicher und entspannter, weil sie die Aufgabe, sie zu füttern, an andere übertragen können, wenn sie mal eine Pause brauchen. Das habe sie alles auch schon zu Jo gesagt, teilt sie Hilary mit, aber Jo wolle nun mal, dass ihr Sohn den bestmöglichen Start ins Leben bekomme, und alle Gesundheitsexperten seien sich einig, dass die beste Ernährung die Muttermilch sei. Also stellt Sabina ihre Überzeugung zurück und unterstützt Jos Entscheidung. Was sollte sie auch sonst tun?
Hilary gibt sich damit nicht zufrieden. Sie zieht ein originalverpacktes Fläschchen und eine Packung Babymilch aus der Handtasche. Jo ist nicht hier, sagt sie – sie steht in der Küche und kocht. Lass mich Barney die Flasche geben, ich habe es schon mal getan. Jo
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