Der kalte Schlaf
wusste nichts davon, und es war ein riesiger Unterschied. Barney war an dem Tag kaum wiederzuerkennen, er hat kaum geschrien. Pam spricht ein Machtwort: Ohne Jos Einwilligung könne sie das nicht machen. Es ginge nicht darum, was wir denken würden, erklärt sie, es sei Jos Entscheidung. Neil, ihren Sohn und Barneys Vater, erwähnt sie dabei nicht. Seine Ansichten darüber, wie sein Sohn ernährt werden sollte, sind irrelevant.
Ein leiser, relativ höflicher Streit zwischen den beiden Großmüttern bricht aus. Pam ist normalerweise ruhig und hält sich zurück, und Hilary ist verärgert. Das Leben ist schon schwer genug, argumentiert sie, warum sollte man es noch härter machen und ein Kind hungern lassen? Kirsty, die es nicht gewohnt ist, ihre Mutter zornig zu erleben, fängt an, gequälte Laute von sich zu geben und sich hin und her zu wiegen. Der Krach erschreckt den fünfjährigen William, und er läuft weg. Amber geht ihm nach. Im Garten holt sie ihn ein. Er erzählt ihr, er habe Angst vor Kirsty, die er als »großes Monster« bezeichnet. Amber weiß nicht, was sie dazu sagen soll, und fragt, ob er seinen Eltern je von seiner Angst vor Kirsty erzählt habe. Ja, antwortet er, und Mama sagt, ich darf keine Angst vor ihr haben. Sie ist meine Tante, sie gehört zur Familie. Sie liebt mich und ich muss sie auch lieben, obwohl sie anders ist. Sie kann ja nichts dafür. William bittet Amber, Jo nicht zu verraten, was er gesagt hat oder dass er vor Kirsty davongelaufen ist.
Das macht Amber wütend. Jo sollte William nicht vorschreiben, was er zu empfinden hat. Sie sollte begreifen, dass jemand wie Kirsty, die eindeutig zu den Erwachsenen gehört und sich doch nicht benimmt wie eine Erwachsene, auf einen Fünfjährigen erschreckend wirkt. Wie kann Jo es wagen, William das Gefühl zu geben, er müsse seine Angst vor ihr verbergen? Um ihn aufzumuntern, schlägt Amber vor, ein Spiel zu spielen: die Jagd nach dem Schlüssel zu dem verschlossenen Arbeitszimmer. William findet die Idee aufregend, und so beginnen sie mit ihrer Suche und stellen dabei Vermutungen an, was sich wohl in dem verbotenen Zimmer befinden könnte. Niemand fragt, was sie da eigentlich tun, als sie durchs ganze Haus streifen. Als das Essen auf dem Tisch steht, haben sie alles durchsucht außer der Küche, dem Hauswirtschaftsraum und Jos und Neils Schlafzimmer samt dazugehörigem Badezimmer – da konnten sie nicht rein, weil Neil dort schläft, später duscht und sich für das Weihnachtsessen umzieht.
Nach dem Essen steht Lukes Wissensquiz auf dem Programm. Amber und William nehmen nicht daran teil. Sie machen mit ihrem geheimen Spiel weiter und erzählen jedem, sie hofften, später eine Überraschung für alle zu haben. Ist sich Amber ihres Wunsches bewusst, ein eigenes Geheimnis zu haben, da Jo ein Geheimnis hat, das sie niemandem verrät? Hat sie moralische Bedenken, dass sie die Privatsphäre der Besitzer von Little Orchard verletzen könnte, wenn sie das Glück haben sollte, den Schlüssel zu finden? Nein und nein, wäre meine Annahme. Bewusst macht Amber sich nur Sorgen, dass sie den Schlüssel nicht finden könnte, sie fragt sich, ob es verrückt von ihr war, sich auf diese Suche einzulassen, die im Grunde zum Scheitern verurteilt ist. Was ist, wenn sie den Schlüssel nicht finden? William wird furchtbar enttäuscht sein.
Aber ihre Ängste erweisen sich als überflüssig. Bei der gründlichen Durchsuchung der Küche entdecken sie einen Schlüssel, der an einem Nagel hängt, der aus der Rückwand einer Anrichte aus Kiefer ragt. Das muss er sein, sagt Amber zu William. Warum sonst sollte jemand einen Schlüssel an einer so schwer zugänglichen Stelle aufbewahren? Amber zieht sich eine Zerrung im Rücken zu, als sie versucht, die Anrichte beiseitezuschieben, um an den Schlüssel zu kommen. Streng genommen ist die Anrichte zu schwer für sie, aber sie gibt nicht auf, denn wie zuvor Jo will sie keine Hilfe. Sie will beweisen, dass sie alles allein schaffen kann.
William ist total aufgeregt, rennt ins Wohnzimmer und unterbricht Lukes Quiz mit einer triumphalen Ankündigung: Er und Amber hätten den Schlüssel zu dem verschlossenen Raum gefunden. Amber verkündet ihre Absicht, aufzuschließen und sich in dem Zimmer umzusehen – wer will mitkommen? Die Aufforderung ist eine bewusste Provokation, eine Herausforderung. Sie will sehen, ob sich jemand traut, sie aufzuhalten. Hätte Amber sich anders verhalten, wenn sie sich nicht so über das Schweigen
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