Der kalte Schlaf
Ich hole die Kinder von der Schule ab, und wir fahren zum Abendessen »zu Jo«, wie alle immer sagen, obwohl auch Neil, William, Barney und Quentin in dem Haus wohnen. Und mittwochs hat Nonie in der letzten Stunde Mathe, und sie verlässt den Matheunterricht regelmäßig mit der Überzeugung, der dümmste Mensch auf dem ganzen Planeten zu sein.
»Es bringt nichts, einfach irgendwelche Antworten zu rufen, Nones.« Ich fummle an den Schaltern am Armaturenbrett herum. Ich war blöd genug, mich von Luke überreden zu lassen, ein neueres und besseres Auto zu kaufen, als unsere prekäre Finanzlage eigentlich erlaubt, und die verschiedenen Schalter und Anzeigen habe ich auch nie richtig bedienen gelernt. Die komplizierten, mit vielen Pfeilen versehenen Luftstrom-Diagramme deuten an, dass eine Vielzahl von Heizoptionen zur Verfügung stehen, aber bislang fehlte mir die Zeit, herauszufinden, was was ist, also drücke ich einfach auf irgendwelche Knöpfe und kann mir nie merken, welche Handlungsfolge zum erwünschten Ergebnis führt, das ich sowieso nur selten herbeiführe. Heute habe ich kein Glück. Statt angenehmer Wärme, die sich gleichmäßig im Auto verteilt, bläst mir erstickende Hitze ins Gesicht. Dann lieber frieren, beschließe ich. Ich beneide die Mädchen um die Wintermäntel, die ich ihnen gekauft habe und die aussehen wie aufgeblasene Luftmatratzen mit Ärmeln.
»Es kann sein, dass du zufällig die richtige Antwort gibst, aber dann hast du vielleicht noch nicht verstanden, warum sie richtig ist«, erkläre ich Nonie. »Bitte beruhige dich und lass mich erklären …«
»Was hat Mrs Truscott gesagt?«, fragt Dinah.
»Einen Moment, Dinah, ich möchte das erst zu Ende bringen.«
»Dann kann ich ja ewig warten. Nonie wird ewig darüber reden, dass sie in Mathe nichts kapiert.«
»Du hast leicht reden! Du bist gut in Mathe. Ich bin eine absolute Null. Ich werde immer eine absolute Null sein.«
»Vierundsiebzig. Sechsundsechzig plus acht: vierundsiebzig. Das ist die Lösung. Was hat Mrs Truscott gesagt, Amber?«
»Sag es mir nicht!«
»Dinah, du sollst doch nicht …«
»Hab ich schon. Was hat Mrs Truscott …«
»Wein nicht, Nones, es spielt keine Rolle.« Sie muss sehen, dass ich sie anlächle. Ich versuche, nicht an Ed aus meinem verpassten Verkehrserziehungskurs und seine tote Tochter zu denken, nehme den Blick von der Fahrbahn und drehe mich um, damit Nonie mein Gesicht sehen kann. Hoffentlich zeigt es einen beruhigenden Ausdruck und nicht tiefsten Schrecken. Mein Rat, nicht zu weinen und nicht in Panik zu geraten, gilt mir selbst ebenso sehr wie ihr. Ich weiß nicht, wie ich beiden Kindern gleichzeitig genügend Aufmerksamkeit schenken soll. Es ist ein Rätsel, das ich nicht lösen kann. Zweifellos gibt es eine Antwort, eine Antwort, die eine Mutter instinktiv kennen würde, aber ich bin keine Mutter und werde es auch nie sein – keine richtige jedenfalls. Ich würde gern immer beiden Kindern meine ganze Aufmerksamkeit widmen, aber das ist nicht möglich, und warten kann auch nie was. Dafür ist Dinah zu fordernd, und Nonie macht sich zu große Sorgen.
Ich hasse Mathe für das, was es ihr antut. Liebend gern würde ich diesem bösartigen Fach die Zähne eintreten. Den Verdacht, dass es perfide und sinnlos ist, hatte ich ja schon immer, und jetzt habe ich einen Beweis für seine Niedertracht. Es ist unglaublich, was für ein Folterinstrument es für dieses liebenswerte, fleißige kleine Mädchen ist, dessen Glück in meiner Verantwortung liegt. Wenn ich dafür sorgen kann, dass Dinahs Stück doch aufgeführt wird, kann ich doch bestimmt auch dafür sorgen, dass Mathe für immer aus dem Stundenplan verschwindet? Zweifellos müssen manche Leute das lernen, die Leute, die später Mathematiker und Naturwissenschaftler werden, aber es ist offensichtlich, dass andere – Leute wie ich, wie Nonie – sich damit nicht abzuplagen brauchen, weil wir darin sowieso nie weit kommen und immer finden werden, dass es das Langweiligste auf der Welt ist, da keine Menschen darin vorkommen.
Luke hat mir verboten, diesen banausenhaften Ansichten in Gegenwart von Nonie Ausdruck zu verleihen. Während ich mich heimlich frage, mit wem ich schlafen muss, um Nonie die Zensur in Mathe zu besorgen, die sie braucht, um auf eine höhere Schule gehen zu können, wo sie richtige Fächer wie englische Literatur, Geschichte und Psychologie belegen kann, Fächer mit Menschen darin, glaubt Luke weiterhin, dass Nonie eines Tages, mit
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