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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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ärgern würde, das Jos und Neils Verschwinden umgibt? Ich glaube ja. Ich denke, es ist kein Zufall, der die Gelegenheit herbeigeführt hat, um gegen »Kein Zutritt«-Schilder, metaphorische oder sonstige, zu protestieren, dagegen, dass man ihr etwas verheimlicht.
    Jo ist wütend. Sie verlangt, dass Amber ihr den Schlüssel augenblicklich aushändigt. Sie sei verantwortlich für das Haus, wie sie betont. Sie und Neil hätten es gemietet und seien daher seine Hüter. Entspann dich, sagt Amber. Wir haben ja nicht vor, irgendwelchen Schaden anzurichten. Wir wollen uns nur kurz umsehen und gucken, was sich in dem Raum befindet. Es sei der harmlose Abschluss eines harmlosen Spiels, das sie und William gespielt haben. Luke, Ritchie und Sabina, angesteckt von Ambers und Williams Begeisterung, sind in Versuchung. Sie sind sich einig, dass es nicht schaden könne. Es gibt Witzeleien über Sexspielzeuge und Cannabispflanzen, natürlich nur durch die Blume, um William zu schützen. Quentin ist es egal. Er interessiert sich nur für seine eigenen Angelegenheiten, und was sich in Little Orchards verschlossenem Raum befindet, kann unmöglich etwas mit ihm zu tun haben. Pam findet, dass sie den Schlüssel zurückhängen sollten, und verleiht dieser Ansicht auch Ausdruck, ebenso entschieden, wie sie kurz zuvor gesagt hat, dass Barnaby auf keinen Fall die Flasche bekommen dürfe. Daraufhin erklärt Hilary sofort, ein schneller Blick könne nicht schaden, allein schon, um William glücklich zu machen.
    Amber schlägt eine Abstimmung vor, denn sie weiß, dass sie gewinnen würde. Jo spricht ein Machtwort. Sie ist fuchsteufelswild, sie weint beinahe vor Wut. Sie belehrt Amber darüber, dass demokratische Prinzipien hier ganz sicher nicht zur Anwendung kommen werden. Sie und Neil hätten die Miete für das Haus und auch die Kaution bezahlt, womit sie, und nur sie, in dieser Sache zu entscheiden hätten. Neil stimmt seiner Frau zu. Es komme auf keinen Fall in Frage, das Arbeitszimmer aufzuschließen. Niemand fragt sich, ob der von Amber gefundene Schlüssel vielleicht zu einer anderen Tür gehört. Alle gehen davon aus, dass es der richtige Schlüssel ist. Jo macht Amber Vorwürfe, vor allen anderen. Das Ganze, sagt sie – die Suche nach dem Schlüssel und dass sie William da mit hineingezogen habe – sei absolut und vollkommen unmoralisch, sie solle sich schämen.
    Amber weigert sich, sich zu schämen. Ich glaube immer noch, sagt sie, dass es nicht schaden kann, kurz einen Blick in das Zimmer zu werfen. Die meisten Leute würden das tun, argumentiert sie, genau wie die meisten Leute pikante Gespräche belauschen und fremden Leuten über die Schulter blicken, um die SMS zu lesen, die diese gerade verfassen, und irgendwie müssten das auch die Eigentümer von Little Orchard wissen.
    Jo erwidert, sie jedenfalls würde niemals lauschen und niemals den Versuch machen, die Privatkorrespondenz anderer Leute zu lesen.
    Amber kontert, sie hingegen würde niemals einem anderen Menschen sagen, wann der sich zu schämen hätte, oder sich dazu gratulieren, ein besserer Mensch zu sein als alle anderen.
    Amber gibt Jo den Schlüssel zurück.

5
    M ITTWOCH , 1. D EZEMBER 2010
    »Dreiundsiebzig? Siebzig! Sechsundsiebzig?« Nonie feuert Zahlen auf mich ab, ihre gequälte Stimme zittert vor Anspannung.
    »Nur keine Panik«, beruhige ich sie und wünsche mir, sie säße neben mir auf dem Beifahrersitz und könnte mein Gesicht sehen. Ich weiß, dass sie sich das auch wünscht. Nonie ist ein Opfer ihrer eigenen Fairness-Politik geworden, mit der sie es peinlich genau nimmt. Wenn sie, Dinah und ich zusammen Auto fahren, müssen sie und Dinah beide hinten sitzen, obwohl beide wahnsinnig gern vorn sitzen würden. Dinah hat vorgeschlagen, dass sie sich abwechseln, aber das will Nonie nicht. Da keiner von uns weiß, wie viele Autofahrten es insgesamt in unserem gemeinsamen Leben geben wird, können wir nicht mit Sicherheit wissen, dass es keine ungerade Zahl ist. Jemand könnte bevorzugt werden.
    »Ich kann das nicht! Ich kapier’s nicht! Siebenundsiebzig?«
    »Nein. Tut mir leid«, sage ich. Keuchen alle Kinder verzweifelt, wenn sie ihre Mathe-Hausaufgaben machen? Ich versuche, im Rückspiegel Nonies Blick aufzufangen. Ich konnte sie schon immer schneller mit Blicken als mit Worten beschwichtigen.
    »Fünfundsiebzig!«
    Ich hasse Mittwoche. An Mittwochnachmittagen bin ich nicht frei. Ich bin gebunden durch eine Tradition, die ich nur zu gern beenden würde.

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