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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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dann nach rechts. »Gibbs? Sie halluzinieren, Waterhouse. Setzen Sie sich.« Er wies auf die einzige Sitzgelegenheit in seinem Büro.
    »Das ist Ihr Stuhl.«
    »Benutze ich ihn etwa im Moment? Wenn ich Ihnen den Stuhl anbiete und im Augenblick nicht selbst darauf sitze, wo ist dann das Problem?«
    Simon ging um den Schreibtisch des Inspectors herum und setzte sich. Er kam sich albern vor, wie ein Hochstapler, der versuchte, sich als Detective Inspector auszugeben, der sich in aller Öffentlichkeit einer peinlichen, egosteigernden Selbsttäuschung hingab. Ein Punkt für den Schneemann. Bald würde es Spiel, Satz und Sieg stehen.
    »Ich fürchte, ich habe mehr als sechs Worte für Sie, aber dürfte ich eine andere zeitsparende Vorgehensweise vorschlagen? Wie wär’s, wenn Sie aufhören, mich alle zehn Sekunden zu unterbrechen?«
    Simon nickte.
    »Sofortige Zustimmung. Das bedeutet, Sie bilden sich ein, es würde Ihnen leichtfallen.« Proust lächelte, während er im Zimmer auf und ab ging. »Sie haben keine Angst mehr vor mir, Waterhouse. Sie haben sich immer vor mir gefürchtet – bis vor kurzem noch –, aber jetzt tun Sie es nicht mehr.«
    Was war das, Punkt eins der Tagesordnung oder einleitende Worte? Spielte es eine Rolle?
    »Diese Furcht war immer völlig grundlos, und ich habe mich stets darüber gewundert. Schließlich habe ich nichts Furchterregendes an mir, oder? Ich sage, was ich denke, und ich kann Dummköpfe nicht ertragen – problematisch, sicher, besonders für Sie, das begreife ich natürlich –, aber dennoch … warum die Furcht? Niemand sonst hat Angst vor mir. Man könnte denken, ich wäre eine Art Tyrann, der andere einschüchtert.«
    »Könnte man denken«, bestätigte Simon.
    »Ich bin sicher, Sie wären der Erste, der einräumen würde, dass ich jeden fair behandle, Sie eingeschlossen. Ich bringe mich fast um in dem Bemühen, Ihnen gegenüber fair zu sein.« Proust schüttelte den Kopf. Die Verwunderung in seinem Gesicht schien echt zu sein. Für wen wäre Proust eigentlich wirklich ein großer Verlust, überlegte Simon: für den Schauspielerberuf oder für die ausschließlich extremen Fällen vorbehaltene Penthouse-Gummizelle im örtlichen Irrenhaus?
    »Ich habe Ihre Furcht vor mir stets auf irgendein absonderliches Defizit Ihrerseits zurückgeführt. Eins von vielen.« Der Schneemann langte über den Schreibtisch und griff nach seinem neuen Bester-Opa-der-Welt-Becher. Simon, der sich erinnerte, dass ihm dessen Vorgänger an den Kopf geschleudert worden war, fuhr leicht zusammen. »Ich muss zugeben, gelegentlich habe ich Ihre Phobie als ganz nützlich betrachtet, als Mittel, Sie unter Kontrolle zu behalten. Es gab aber auch Zeiten, wo sie mich maßlos irritiert hat, weil es Ihre Fähigkeit beeinträchtigt, auf die zahllosen vernünftigen Argumente zu hören, die ich an jedem einzelnen Arbeitstag vorbringe. Wie dem auch sei, Sie können mir kaum vorwerfen, dass mir mein neues Teammitglied – der mutige Waterhouse – aufgefallen ist. Tapfer und verwirrt. Sie haben keine Ahnung, warum Ihre Angst vor mir ihren Posten verlassen hat und in den Sonnenuntergang geschlendert ist, begleitet von Ihrer Angst vor Arbeitslosigkeit, oder?«
    Nein.
    »Ich sag’s Ihnen.« Proust beugte sich über den Schreibtisch. Sein Atem roch nach heißem Tee, der zu lange gezogen hatte. »Etwas Neues, Beängstigendes ist in Ihr Leben getreten. Es erschreckt Sie dermaßen, dass sich urplötzlich all Ihre alten Ängste relativiert haben: Ihr tattriger Vorgesetzter, Ihre gebrechlichen alten Eltern. Haben Sie sich auch Ihrer Mutter widersetzt? Haben Sie sich geweigert, das Blut der Jungfrau Maria zu trinken oder was immer sie und ihre seltsame Sekte so treiben, völlig unbeeindruckt, obwohl seit kurzem Beweise dafür vorliegen, dass der ganze Verein nichts weiter ist als eine Tarnung für eine globale Epidemie sexueller Perversion …?« Proust hielt inne. »Ich habe den Faden verloren«, sagte er.
    »Sie waren gerade dabei, meine Mutter zu beleidigen.«
    »War ich nicht!«
    Eine Faust donnerte auf den Schreibtisch und ließ ihn erbeben, Tee spritzte in die Luft und ergoss sich auf den Fußboden. Simon ließen die Spezialeffekte kalt, er hatte das alles schon mal gesehen. Er versuchte, die Kampftaktik des Schneemanns zu durchschauen und war wider Willen beeindruckt. Wenn man eine Meinung anzweifelt, kann der Inhaber dieser Meinung ein Gegenargument anführen, wenn man aber eine unstrittige Tatsache einfach leugnet, ist

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