Der kalte Schlaf
reagiert.
Amber weiß, dass sie Jo nicht zur Begrüßung küssen darf, wie sie es bei den meisten Leuten macht, die ihr nahestehen. Einmal, als sie und Luke noch nicht lange zusammen waren, versuchte sie es, und Jo brach in Gelächter aus, wich zurück und sagte: »Nicht küssen. Ich könnte mir das Lachen nicht verkneifen.« Als Amber wissen wollte, was sie damit meine, sagte Jo: »Dieses ganze Schicki-micki-Getue. Sorry, aber ich komme aus dem Norden – ich kann das einfach nicht.« Amber muss erstaunt gewesen sein. Auch gekränkt, könnte ich mir vorstellen. Viele Leute finden überhaupt nichts dabei, jemanden zur Begrüßung zu küssen. Es ist einfach ein Ausdruck von Zuneigung, und niemand schätzt es, wenn seine Zuneigung zurückgewiesen wird. Neil, der Zeuge der Szene wurde, wird Ambers Verlegenheit vielleicht bemerkt haben. Vielleicht lenkte er deshalb die Aufmerksamkeit von ihr ab und neckte Jo mit den Worten: »Mädchen aus dem Norden küssen nur, wenn was für sie drin ist. Vorzugsweise Sex, Ehe und zwei Kinder, in der Reihenfolge.« Hoffte Amber, dass Jo verletzt sein würde? Wenn ja, muss sie enttäuscht gewesen sein, als Jo nur mit den Achseln zuckte und antwortete: »Ich fühle mich bei körperlichem Kontakt halt nicht so wohl.«
Später, als Amber Luke davon erzählte, bestätigte er, ja, es stimme, Jo habe es nicht so mit Körperkontakt, obwohl er noch nie darüber nachgedacht habe. »Beim Geküsse zur Begrüßung hält sie sich immer zurück und achtet darauf, nicht in die Schusslinie zu geraten.« Konnte Amber, nachdem Luke ihr bestätigt hatte, dass es nichts Persönliches war, besser mit dem Vorfall umgehen? Offenbar nicht, sonst würde sie es nicht Jahre später noch erwähnen. Zurückhaltung ist ja schön und gut, wird sie sich vielleicht gedacht haben, aber wenn einem trotz aller Vorsicht doch mal jemand nahe genug kommt, um einem zur Begrüßung ein Küsschen zu geben, sollte man es über sich ergehen lassen, wenn die Alternative ist, die betreffende Person in Verlegenheit zu bringen und zurückzustoßen.
Und Jos Haltung ist inkonsequent. Als Amber einmal in Jos Wohnzimmer kam, sah sie sie auf dem Sofa sitzen und William und Barney knuddeln, die rechts und links neben ihr saßen. Als sie Amber sah, sprang Jo sofort auf und stieß ihre Söhne fast von sich, als wäre sie bei etwas Schändlichem ertappt worden. Und vielleicht hätte Amber den früheren Vorfall vergessen, wenn sie nicht Zeuge dieser Szene geworden wäre. War das nicht der Beweis dafür, dass Jo nicht generell etwas gegen Küsschen hatte, sondern nur von Amber nicht geküsst werden wollte?
Doch meiner Ansicht nach irrt sich Amber, wenn sie das glaubt. Kinder, die Opfer von körperlichen und emotionalen Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch geworden sind, scheuen als Erwachsene oft vor Körperkontakt zurück. Ihre Kinder sind oft die einzige Ausnahme von dieser Regel.
Jos Gedankenlosigkeit ist ein immer wiederkehrendes Thema für Amber, und es verletzt sie vermutlich besonders, weil Jo immer wieder bewiesen hat, dass sie zum Gegenteil fähig ist. Denn ohne Zweifel kann Jo rücksichtsvoll sein, wenn sie will.
Kurz nachdem Amber und Luke geheiratet hatten, fragte Jo, ob Amber vorhabe, zu Hause zu bleiben, wenn das erste Baby da sei. Nein, entgegnete Amber, sie könne den Gedanken nicht ertragen, ihren Beruf aufzugeben. Darüber lachte Jo, die Logopädin gewesen war, bevor sie William bekommen und aufgehört hatte zu arbeiten. Vorausgesetzt, Ambers Erinnerung stimmt, reagierte Jo mit dem Satz: »Man könnte meinen, du wärst Hollywood-Schauspielerin oder eine Naturwissenschaftlerin, die den Nobelpreis gewonnen hat. Du bist Sachbearbeiterin in der Gemeindeverwaltung, um Himmels willen.« Amber ist ganz allein für die Gewerbeüberwachung in der Gemeinde Rawndesley zuständig, aber darauf wies sie Jo natürlich nicht hin. Sie erklärte ihr auch nicht, dass es möglich ist, seine Arbeit zu lieben und stolz darauf zu sein, auch wenn die Berufsbezeichnung nicht besonders glamourös klingt. Ich nehme mal an, dass Jo das Gespräch hier beendete, ohne ihre Überzeugung geändert zu haben, dass es falsch von Amber sei, so viel Wert auf ihren Beruf zu legen. Und dabei hätte sie sich auch ganz anders verhalten können. Sie hätte sagen können: »Oh, tut mir leid, wie ignorant von mir. Erzähl mir von deiner Arbeit. Was liebst du so daran?«
Als Amber ihr von ihrer Beförderung erzählte, sagte Jo: »Du hast jetzt also einen anderen
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