Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
nicht auch fühlen?«
Enna nickte. »Ich spüre eine tiefe und schwere Trauer. Es ist fast so, als wollte sie mich in diesen kleinen See hineinziehen.«
»Mich gruselt es eher bei dem Gedanken, dass hier frustrierte Seelen herumlungern«, sagte Jorim und spähte ein wenig unbehaglich in den Wald hinein.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, versuchte Gwendalon den Halbling zu beruhigen. »Die Seelen tun niemandem etwas zuleide. Allerdings würde jedes Wesen, das mit schlechter Absicht diesen Wald betritt, an der Trauer ersticken. Also, seid beruhigt. Seid versichert, dass euch in dieser Nacht nichts schaden kann.« Gwendalon legte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Noch nie hatte Enna ihn so entspannt gesehen, und das gab auch ihr ein gutes Gefühl.
Am nächsten Morgen wartete eine Überraschung auf sie: Der Wald war weg! Auch den Teich, in dem sich der volle Mond gespiegelt hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen war da nur hartes Gras, das den Halblingen bis über die Schultern gereicht hätte, wäre es nicht von einem heftigen Wind niedergedrückt worden. Hektisch stand Enna auf und wäre prompt von einer Bö umgeworfen worden, hätte Jorim sie nicht gestützt.
»Wo ist der Zwillingswald?«, rief Bronn und drehte sich suchend im Kreis. Der Sturm zerrte an seinem grauen Haar, als ob er es ihm vom Kopf reißen wollte.
»Wie ich sagte«, entgegnete Alvendorah und rollte ihre Decke zusammen, »dieser Wald verweilt nie lange am selben Ort, er ist ständig in Bewegung.«
Bronn schüttelte nur den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und packte rasch seine Sachen.
Doch ihre Verwunderung wich bald wachsender Besorgnis wegen des Wetters. Zwar war die Luft erstaunlich warm, aber im Süden brauten sich Wolken, schwarz wie die Nacht, über dem Drachenkrater zusammen. Donner grollte und Blitze zuckten, bildeten goldene Risse im Himmelsgewölbe, sodass es aussah, als ob es bald auseinanderbersten würde.
»Das muss der Ewige Sturm sein!«, brüllte Bronn gegen den anschwellenden Wind an und versuchte, sich auf den Beinen zu halten.
»Dann nichts wie weg!«, schrie Jorim, und auch Gwendalon drängte zum Aufbruch.
Sie hasteten weiter durch das hohe Gras und hielten direkt auf die Suravan-Berge zu. Immer wieder warfen die Halblinge beunruhigte Blicke zurück. Ab und zu glaubte Enna auch Gulvaren und einmal sogar einen Drachen in den tobenden Naturgewalten zu erblicken, doch der Sturm und der immer unebener werdende Boden zwangen sie, sich stärker auf ihren Weg zu konzentrieren.
Gegen Mittag wich die Graslandschaft allmählich dichtem Buschwerk. Zwar war dies nicht viel höher als Gwendalon und schützte sie ein wenig vor dem Sturm, dennoch versperrte es ihnen die Sicht auf die Umgebung. So tat sich unmittelbar vor ihnen plötzlich ein langer, schmaler See auf.
Jorim stapfte zum Ufer und spähte nach links und rechts. »Es wird ewig dauern, bis wir da herumgelaufen sind«, murrte er und rümpfte dabei die Nase. »Außerdem stinkt der Tümpel gehörig, und ich habe keine Lust, wieder einem Ungeheuer in die Arme zu laufen.«
Mit dem Schwert in den Händen ging Gwendalon ein Stück weit in den See hinein, und selbst als der Elf fast hundert Schritte zurückgelegt hatte, reichte ihm das Wasser gerade so bis zu den Knien. Schließlich wandte er sich um und winkte die anderen herbei.
Alvendorah warf noch einen raschen Blick zum südlichen Himmel. Was sie dort sah, gefiel ihr offensichtlich gar nicht, denn ihr Gesichtsausdruck wirkte besorgt.
»Lieber einen stinkenden See als den Ewigen Sturm«, rief sie und folgte ihrem Gefährten.
»Gib auf das Ei acht!«, flüsterte Bronn Jorim zu, und Enna klopfte ihrem Bruder aufmunternd auf die Schulter.
»Und auf die Ungeheuer!«
Jorim schnitt eine Grimasse, und schließlich stapften auch die Halblinge durch den See.
Sie waren nicht mehr weit vom anderen Ufer entfernt – nach wie vor reichte das Wasser den Halblingen bis zur Brust – als genau in diesem Moment Jorim zu schreien begann.
»Etwas hat mich gebissen!«
Enna wandte sich um und erkannte, wie er wild herumfuchtelte und immer wieder in das Wasser schlug.
»Jorim!«, schrie Enna, doch da stürmte Gwendalon schon mit gezogenem Schwert an ihr vorbei. Alvendorah folgte mit angelegtem Bogen, und auch Bronn eilte zu Jorim, wobei er seine kleine Steinaxt in Händen hielt.
Erneut brüllte Jorim, doch es war kein Ungeheuer zu sehen. Dennoch kippte er plötzlich hintenüber – und
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