Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
hat noch eine andere Bedeutung«, verkündete er. »Ihr alle wisst, wer Selda ermordet hat, und ihr kennt die Bedrohung, die auf Westendtal zukommt. Heute wird nicht nur Selda Korbflechter in die Grünen Gefilde einziehen, sondern es ist auch der Tag des Aufbruchs. Der Aufbruch jener tapferen fünf von uns, die sich auf die Suche nach unserem alten Helden Bronn Sternenfaust machen. Was diese Reise ergeben mag, ist ungewiss. Vielleicht finden sie Bronn, vielleicht finden sie aber auch andere Hilfe oder aber sie begegnen ihrem Schicksal.«
Bei diesen sonderbaren Worten hoben viele den Kopf. Auch Enna warf Jorim einen fragenden Blick zu, und die sonst so glatte Haut ihrer Stirn zierten einige nachdenkliche Fältchen. Erhoffte sich Brim insgeheim mehr, als nur Bronn zu finden?
»So lasst uns das heutige Ritual hier am Felsenportal auch als Symbol verstehen – dafür, dass wir einen neuen Weg einschlagen, denn nicht oft kam es in der Geschichte Westendtals vor, dass die Unsrigen auszogen, um fremde Länder zu erkunden. Doch heute erheben wir uns und lehnen uns gegen das Schicksal auf!«
Brim Mühlenstein hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller gewonnen, und viele der Halblinge nickten trotzig oder blickten Jorim und Enna, Elvor, Nespur und Jul bewundernd an.
In diesem Moment fielen die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Portal und brachten das vom Regen noch nasse Efeu zum Glänzen. Wie ein einzelner großer Strahl erstreckte sich das Sonnenlicht über das Wilde Meer, dessen tosende Brandung bis hierher zu hören war.
Nun war es soweit: Selda wurde auf das Floß gelegt. Halblinge, die ihr nahegestanden hatten, legten Beigaben neben sie: kleine Geschenke, wie Blumen, einen reich verzierten Krug oder auch Teller, außerdem Brot und Wasser für die Reise – vielerlei Nützliches und manchmal auch weniger Nützliches befand sich darunter. Zuletzt war es an Brim, den aus Holz geschnitzten Gefildenvogel zu Füßen der Verstorbenen zu legen. Wie Jorim wusste, gab es den Gefildenvogel tatsächlich in Westendtal. Meist trällerte er sein Lied, wenn der Tag zur Nacht wurde oder die Nacht zum Tag. In diesen diffusen Lichtverhältnissen schimmerte dann die Brust des Tieres karmesinrot und das restliche Federkleid in einem Grün, wie man es in den Grünen Gefilden vermutete. Deshalb war es seit jeher Brauch, aus dem Holz der Eichen den Vogel zu schnitzen, ihn zu bemalen und dem Floß beizulegen. Jorims Volk war davon überzeugt, dass der Gefildenvogel zum Leben erwachte, um die Seelen der Toten auf dem Weg in die jenseitige Welt zu begleiten.
Am Ende brauchte es zehn Halblinge, um das Floß in die Höhe zu wuchten und die steinernen Stufen hinab ans Ufer zu tragen, wo man es schließlich dem Meer übergab. Jorim konnte sehen, wie das hölzerne Gefährt auf den Wellen auf und ab schaukelte, und nicht zum ersten Mal wunderte er sich darüber, wie das Floß vom Meer hinausgetragen wurde, anstatt an Land gespült zu werden. In der aufsprühenden Gischt entstand ein kleiner Regenbogen, und Jorim hatte den Eindruck, als würde das Floß durch ihn hindurchtreiben. Für einen Moment glaubte er sogar, einen rot und grün leuchtenden Vogel zu erkennen, der mit anmutigen Flügelschlägen davonflog. Doch das mochte wohl seiner Fantasie geschuldet sein.
Erst als das Floß am Horizont verschwunden war, wandte sich die Trauergemeinde ab und trat den Rückweg an. Jorim wusste, die Trauer würde nicht lange anhalten. Bald schon würden nämlich die meisten in den Tavernen sitzen oder sich einfach in der Natur niederlassen und den ganzen Tag lang Geschichten über die Verstorbene erzählen. Dass die Halblinge dabei aßen und tranken war selbstverständlich. Auf diese Weise ehrten sie ihre Verstorbenen und machten dem Trübsinn rasch ein Ende.
Für die fünf Weggefährten war es derweil an der Zeit, noch einige Vorbereitungen für die Reise zu treffen und dann die Wanderschaft anzutreten.
»Habt ihr ihn auch gesehen?«
Die kauzige Stimme des alten Vern Flusstaucher riss Jorim aus seinen Gedanken.
»Wen gesehen?«, wollte Enna wissen und blieb verdutzt stehen. Verns faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lachen, wodurch sich seine milchig trüben Augen zu Schlitzen verengten.
»Den Gefildenvogel. Er hat sich erhoben und ist davongeflattert. Hoffentlich hat er die Seele der alten Selda nicht vergessen, hihihi!« Vern schlug sich belustigt auf die Oberschenkel.
»Ich dachte, du kannst nicht sehen«, erwiderte Jorim.
»Nicht mehr mit
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