Der Kartograph
mehr bewusst als selbst Waldseemüller und Ringmann. Denn Schlachten, das hatte er gelernt, wurden nicht nur durch die Stärke der Truppen, sondern auch durch die Wahrnehmung und die Überzeugungen dessen entschieden, der die Soldaten anführte. Wer aus dem, was er sah, die falschen Schlüsse zog, wer den Kopf in den Sand steckte, wer Angst hatte, in kniffligen Situationen Entscheidungen zu treffen oder sich Fehler einzugestehen, der hatte die Schlacht schon verloren. Vielleicht sogar den ganzen Krieg.
Die Musik verklang, ein Diener kam in den Raum. «Wo bleibt Ihr, meine Herren? Der Herzog und seine Gäste warten schon.»
Matthias Ringmann zögerte. Beide wussten, dies war ein entscheidender Augenblick in ihrem Leben, einer, der darüber entschied, ob sie den Rest ihrer Tage als lächerliche Spinner oder als hoch geehrte Autoritäten gelten würden.
«Wir haben getan, was wir konnten, Philesius. Und wir können zu dem stehen, was wir getan haben.» Dieses Mal versuchte Martin Waldseemüller den Freund zu beruhigen.
Statt einer Antworte nickte Matthias Ringmann. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Das kam nicht nur von der Aufregung. Die Krankheit fraß an ihm; dieser Körper, der immer magerer wurde, führte inzwischen einen verzweifelten Kampf ums Überleben.
Seite an Seite betraten sie den Raum, beide gekleidet wie Männer von Stand. Der umsichtige Herzog, der sehr genau wusste, wie wesentlich die richtige Kleidung für den ersten Eindruck war, hatte auch dafür gesorgt.
Mit einem Schlag wurde Martin Waldseemüller innerlich ganz ruhig. Er sah nur noch eine wogende Masse von Köpfen. Erst sehr viel später sollte er in der Lage sein, einige der Gesichter auszumachen.
«Meine lieben Freunde – und die meisten, die heute hier sind, zählen zu den Freunden Lothringens und seines Herzogs –, Wir haben die große Ehre, Euch zwei der bedeutendsten Geister dieser Zeit und ihr epochales Werk vorstellen zu können. Philesius und Ilacomylus haben es in unserer neuen officina libraria in Saint-Dié in Druck gegeben. Diese wurde von einem Mann eingerichtet, der uns schon viele gute Dienste geleistet hat, den ich als Freund betrachte. Gauthier Lud und sein Neffe Nicolas haben viel zu dem beigetragen, was Euch heute hier erwartet. Damit meine ich nicht nur den Elan, die Liebe zur Wissenschaft, die Gauthier Lud einbrachte, sondern auch das Wissen um die besondere Bedeutung dessen, was Ihr heute sehen werdet.»
René von Lothringen machte eine kaum wahrnehmbare Handbewegung, woraufhin zwei Diener den Vorhang zur Seite zogen. Und da war sie, die monumentale Karte von Saint-Dié. Die Lettern «America» leuchteten den Menschen entgegen. Der neue Erdteil mit seinem Kranz aus Licht und dem Schriftzug darauf schien den Glanz des Paradieses zu reflektieren. Im Saal erhob sich ein Raunen.
Gauthier Lud war zufrieden. Die Idee mit der Illumination stammte von Nicolas. Er hatte eine Gabe dafür, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Der langjährige Vertraute des Herzogs von Lothringen blickte sich um, sah in die Gesichter der Gäste. Egal, was sie später zu dieser Karte sagen würden, für den Moment waren sie alle von der Magie des Augenblicks verzaubert. Er suchte den Blick des Herzogs. Der nickte ihm lächelnd zu. Sie hatten die Menschen im Saal für sich gewonnen.
Erst Stunden danach war Martin Waldseemüller in der Lage, wirklich zu begreifen, was sich da abgespielt hatte. Die kritischen Stimmen waren von den Bewunderern schnell zum Schweigen gebracht worden. Eigentlich hatte es nur einen Moment gegeben, in dem die Stimmung zu kippen drohte. Natürlich hatte der Vertreter Genuas sehr schnell festgestellt, dass der neue Erdteil auf der Karte dieses Waldseemüller zweierlei Form hatte. Dass die Landmassen auf der großen Karte durch eine Meerenge getrennt waren, sich auf der kleinen Darstellung in der Kartenkrone jedoch eine einzige Landmasse von Süd nach Nord erstreckte. Auf jener Karte der westlichen Hemisphäre also, die Amerigo Vespucci zugeordnet war.
«Habt Ihr das von Vespucci selbst? Wie ich hörte, hat er in diesen Tagen zum ersten Mal öffentlich seine Überzeugung erklärt, bei seinen Reisen in die neue Welt einen vierten Erdteil entdeckt zu haben. Ihr müsst ihn schon lange vorher gesprochen haben. Anders ist diese Übereinstimmung nicht zu erklären.»
«Ja, und was ist mit dem Südwesten dieses – America? Woher wisst Ihr so genau, wie es dort aussieht?», mischte sich eine weitere Stimme ein.
«Ja,
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