Der Kartograph
genau, sagt uns, woher wollt Ihr das wissen?»
Das Gemurmel im Saal wurde erst lauter und wich dann einer gespannten Stille. Was in den Köpfen mancher vorging, war fast mit Händen zu greifen. Die entscheidende Frage war, ob der Kartograph Americas darauf eine Antwort geben konnte?
Martin Waldseemüller hatte plötzlich das Gefühl, allein einer Gruppe von Feinden gegenüberzustehen, einer Wand, die über ihm einzustürzen drohte. Ein Hustenanfall von Matthias Ringmann gab ihm die Zeit nachzudenken, seine Worte sorgfältig zu wählen.
Dann kehrte wieder Stille ein.
«Ich habe sorgsam verglichen und ausgewertet, was mir an Dokumenten zur Verfügung stand», begann er schließlich. «Es waren viele, und das haben wir auch unserem Gönner René von Lothringen zu verdanken. Was Ihr hier seht, sind die Schlüsse, zu denen wir im Gymnasium Vosagense nach reiflicher Überlegung gelangt sind. Einige der gelehrtesten Köpfe dieser Zeit haben mit mir zusammen daran gearbeitet. Ohne Philesius, den ich inzwischen meinen Freund nennen darf, Gauthier Lud, den ich bewundere und dessen überragendes Wissen, dessen Glaube an das große Werk uns auch in schwierigen Zeiten immer wieder vorangebracht hat, ohne Hochwürden Pierre Jacobi, der sich um die Einrichtung der Druckerei von Saint-Dié mehr als verdient gemacht hat – ohne die Hilfe unzähliger Menschen wäre diese Karte nicht entstanden. Es ist nicht nur mein Werk, sondern das Werk vieler. Zuvorderst aber das eines großen Florentiners und Seefahrers, von Amerigo Vespucci.»
Er machte eine Pause.
«Und, wann habt Ihr ihn gesprochen?»
Wieder meldete sich diese Stimme, deren Ursprung er nicht ausmachen konnte. Der Mann sprach ein etwas gebrochenes Französisch. Das rollende R deutete auf einen Südländer hin.
«Amerigo Vespucci meldet sich selbst zu Wort. Jeder im Saal kann seine Stimme vernehmen, wenn er die Introductio liest. Wir haben die Lettera beigefügt. Jene Lettera , die auf den Beschreibungen der Quatuor navigationes , den Reisen dieses großen Mannes basieren. Das ist unser Beweis. Vespuccis eigene Worte. Und jeder, der sie liest, kann nicht anders als uns zustimmen.»
«Ihr habt noch immer keine Antwort gegeben. Habt Ihr Amerigo Vespucci persönlich gesprochen?»
Wieder diese drängende Stimme.
Martin Waldseemüller versuchte, den Sprecher ausfindig zu machen. Vergeblich. «Nein, ich habe Amerigo Vespucci niemals getroffen», erklärte er schließlich ruhig. «Doch im Geist sind wir uns mehr als einmal begegnet.»
«Warum dann die beiden verschiedenen Darstellungen dieser neuen Welt? Ich hörte ihn selbst sagen, dass er vermute, die Landmassen der südlichen und der nördlichen Hemisphäre könnten zusammenhängen, einen einzigen Erdteil bilden. Ihr müsst ihn gesprochen haben. Denn das steht nicht in den Lettera . Dort ist auch nicht beschrieben, wie der westliche Teil der Territorien aussieht, die Ihr America nanntet. Dieses Wissen besitzen nur wenige.»
Der Mann gab nicht auf.
«Wollt Ihr mich etwa einen Lügner heißen?», Martin Waldseemüller war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Der Herzog von Lothringen warf ihm einen warnenden Blick zu. Er riss sich zusammen. «Was ich darstellte ist das Ergebnis von Berechnungen – und es ist in gewisser Weise auch ein Blick in die Zukunft, die der große Florentiner Vespucci uns eröffnet hat. Die Wandkarte zeigt die Gegenwart, das, was wir derzeit wissen, das, was ich aufgrund von eigenen Nachforschungen für belegt halte. Die kleinere Abbildung der westlichen Hemisphäre in der Kartenkrone repräsentiert die Zukunft und erzählt von dem offenen Horizont an Möglichkeiten. Denn die Zeit der Entdeckungen hat meiner Ansicht nach gerade erst begonnen. Jenen, die nach uns kommen, wird es gelingen, die genaue Form dieses vierten Erdteils zu erkunden. Vielleicht sogar dem großen Mann selbst. Wie ich höre, bereitet er eine weitere Reise vor.»
«Nachdem diese Karte erschienen ist, wird Amerigo Vespucci niemals wieder eine Reise in die neue Welt unternehmen», erklärte die Stimme eisig. «Und Ihr werdet noch Euer blaues Wunder erleben. Ihr hättet Euch nicht so blindlings auf die Lettera verlassen dürfen.» Es klang wie ein Todesurteil.
«Was soll das heißen?», fragte Martin Waldseemüller in den Raum.
Als Antwort kam nur ein hämisches Lachen.
Viele Jahre später wurde Martin Waldseemüller klar, dass der Fremde die Wahrheit gesprochen hatte. Amerigo Vespucci reiste niemals mehr zu dem Erdteil, der nun seinen
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