Der Kartograph
dazu. Beide waren froh, dass er endlich einmal aus seiner Kammer gekommen war.
Ilacomylus versuchte, gelassen und heiter zu wirken. Es gelang ihm nicht, das spürte er selbst. Sein Gesicht fühlte sich an wie das eines Harlekins in dieser neuen Commedia dell’arte; in seinem Inneren tobte es. Die Selbstzweifel und die Verzweiflung über seine eigene Naivität zermürbten ihn mit jedem Tag mehr. Inzwischen war aufgrund der zahlreichen Reaktionen auf die Introductio und die Weltkarte mehr als deutlich geworden, dass ihm niemand glaubte. Noch immer war jedermann davon überzeugt, er habe Vespucci getroffen. Alle Welt sprach von «America». Nun galt der große Mann als illoyal, als Aufschneider, wenn nicht sogar als Verräter. Dabei waren er und Ringmann es doch gewesen, die ihn verraten hatten. Sie hatten den Florentiner in diese heikle Lage gebracht. Da war es auch kein Trost, dass Vespucci sein Versprechen wahr gemacht und öffentlich verkündet hatte, diese neue Welt sei seiner Überzeugung nach eindeutig ein vierter Erdteil.
So sehr er auch überlegte, ihm fiel nichts ein, was er tun konnte, um den Schaden wieder gutzumachen. Wie konnte er nur beweisen, dass die Lettera keine Fälschung waren?
Das Polimetrum, vielleicht half das Polimetrum. Die Berechnungen Vespuccis hatten ihn auf die Idee gebracht, wie man das bisher gebräuchliche Torquetum so verändern konnte, dass damit genauere Flächenberechnungen möglich wurden. Doch er stand erst ganz am Anfang seiner Versuche. Vespucci, die Lettera , America – er kam aus diesem Teufelskreis der Gedanken nicht mehr heraus. Nur die Arbeit am Polimetrum verschaffte seinem Geist kurze Ruhepausen.
«Ilacomylus, schön, dass Ihr uns auch einmal besucht. Wir haben uns schon große Sorgen um Euch gemacht, weil Ihr Euch so gar nicht mehr gezeigt habt. Können wir etwas für Euch tun? Braucht Ihr etwas?»
Wer Gauthier Lud kannte, der konnte seine Erschütterung über den Zustand des Kartographen von Saint-Dié erkennen. Martin Waldseemüller war ein Bart gewachsen. Seine Haare hingen ungewaschen über einen speckigen Hemdkragen, sein Rock und seine Beinlinge waren zerknittert und fleckig, unter den Fingernägeln entdeckte Lud schwarze Ränder, noch schwärzer als die Ringe unter den Augen des Magisters.
Martin Waldseemüller blickte ihn einen Moment lang an als befinde er sich in einer anderen Welt. Dann klärte sich sein Blick. «Nein, ich danke Euch. Ich meine, Ihr könnt nichts für mich tun. Im Moment noch nicht. Allerdings würde ich in der nächsten Zeit gerne einmal mit Euch über dieses neue Instrument sprechen, an dem ich arbeite …» Verwirrt hielt er inne, so als habe er gerade den Faden verloren.
Nicolas Lud war froh, dass Waldseemüller wenigstens wieder ein Ziel zu haben schien, an dem er sich aufrichten konnte. Vielleicht half ja die neue Arbeit, das innere Feuer wieder zu entfachen, das langsam in ihm zu verglühen schien. «Mein Onkel erzählte mir davon. Polimetrum nennt Ihr es, nicht war? Es hört sich spannend an. Dürfte ich dabei sein, wenn Ihr mit meinem Onkel darüber sprecht?»
«Wie? Ja, ja natürlich.»
«Der Herzog hat mich außerdem gebeten, Euch auszurichten, dass er sich eine Karte von Lothringen von Euch wünscht», fügte Gauthier Lud hinzu. «Er wird Euch dafür in Kürze die notwendigen Informationen zukommen lassen. Vielleicht hilft Euch dieses Polimetrum ja auch bei der genaueren Vermessung der Orte zu Land, was meint Ihr? Aber sagt, was habt Ihr da in der Hand?»
Martin Waldseemüller blickte auf das große Paket, das er mitgebracht hatte. «Ja. Also, ich meine, ja, das Polimetrum könnte vielleicht dabei hilfreich sein. In der Hand? Ach, das ist die Geographia des Ptolemäus. Meister Amerbach hat sie geschickt.»
Gauthier Lud hätte beinahe laut gejubelt. «Und das sagt Ihr einfach so nebenbei, als wäre das nichts? Wir haben seit Monaten darauf gewartet! Nun ist sie endlich da! Gebt her, zeigt sie mir! Gerade eben habe ich mit Nicolas noch darüber gesprochen, dass wir uns schnell an die Arbeit machen und den überarbeiteten Ptolemäus herausbringen müssen. Eure Karte hat Saint-Dié bekannt gemacht. Das gilt es zu nutzen, die Menschen vergessen schnell. Ihr seid berühmt, Ilacomylus, die ganze Welt kennt inzwischen Euren Namen. Seid Ihr Euch dessen denn nicht bewusst?»
Er hätte beinahe aufgestöhnt. Oh doch, er war sich dessen bewusst. Und er verfluchte sich dafür. Die Karte, die ihn bekannt gemacht hatte, war dabei, die
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