Der Katzenelf (German Edition)

ohne Augenzeugen lesen und steckte den Brief hastig ein. Die zwei Herren empfahlen ihr noch eine ortsansässige Kanzlei mit gutem Ruf, die schon mit Imogen und deren Bruder zusammengearbeitet hatte, und verabschiedeten sich von ihr um nach Schottland zurück zu kehren.
    Ungeduldig öffnete sie auf der Heimfahrt den Brief. Er war tatsächlich von Imogen und kurz vor deren Tod datiert, und an ihren Bruder, den jetzt verstorbenen Henry James MacDerbshire gerichtet und lautete:
    „Lieber Henry,
Ich weiß, dass mein irdischer Lebensweg bald beendet ist, denn die Ärzte haben mir vor kurzem mitgeteilt, dass mein Herz dringend operiert werden sollte, wozu ich mich jedoch nicht entschließen kann. Daher fühle ich auch, wie meine Kraft langsam ausgelöscht wird. Ich werde von Tag zu Tag müder. Bevor ich für immer gehe, möchte ich dich noch einmal an unsere Vereinbarung erinnern, die wir bei deinem letzten Besuch (- es ist viele Jahre her-, du erinnerst dich sicher, es war nach dem Begräbnis meiner geliebten Tochter und deren Mann-) getroffen haben.
    Da du keine Erben hast, wird meine Enkelin Isa, die bei mir aufgewachsen und von mir erzogen wurde, einmal die einzige Erbin unseres gemeinsamen Vermögens sein. Und zwar von unserem Besitz hier in diesem Land, in dem ich nun schon seit Jahrzehnten lebe.
    Ich habe dir damals die Rechte an dem Stillen Tal und den dazugehörigen Quellen nur unter der Voraussetzung abgetreten, dass dieses Gebiet nicht an Fremde veräußert wird. Du hast mir versprochen, Isas Erbe bis zu deinem Tode ordentlich zu verwalten und ich vertraue dir, lieber Bruder!
    Immer wieder sind in dieser Region Bestrebungen im Gange, das Stille Tal für den Tourismus aufzuschließen, doch wir konnten uns bis heute noch dagegen wehren, dass eines der letzten schönen und unberührten Gebiete dieses Landes in die Klauen von gerissenen Geschäftemachern gelangt.
    Meine Enkelin ist von mir in diesem Sinne erzogen worden, ich habe sie gelehrt die Natur zu lieben, zu achten und eben vor solchen Menschen zu schützen.
    Ich bitte dich daher, zusammen mit diesem Schreiben dein Testament wie besprochen, zu Isas Gunsten zu verfassen, damit sie diese Gegend hier weiter schützen kann.
    Das war und muss an alle folgenden Generationen unseres Clans auch so weitergegeben werden und ich verlasse mich darauf, dass du dich an die Familiengesetze, die seit Jahrhunderten von unseren Ahnen befolgt wurden, auch hältst! Lass dich nicht von deiner anerkannten Geschäftstüchtigkeit und deinem Gewinnstreben verführen, das bitte ich dich inständig!
    Leb wohl, lieber Bruder in diesem Leben werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr wieder sehen, aber wir haben einander ja auch eigentlich nie besonders vermisst, nicht wahr? Trotzdem denke ich gerne an dich und unsere gemeinsame Kindheit in Schottland, doch mein Herz gehört auch hier diesem Land und ich gehe voller Zuversicht, dass dieses kleine Paradies noch Generationen erhalten bleiben wird.
    In schwesterlicher Liebe,
    Imogen
     
    Isa steckte Imogens Schreiben wieder ein und sah nachdenklich auf die sattgrünen Bäume des Waldes den die Gebirgsbahn gerade durchfuhr. Schon nach der ersten Kurve leuchtete der Bucklige Berg und daneben der Zacken des Gletschers auf sie hinunter, und sie freute sich an den unberührten Wiesen. In der Ferne sah sie das rote Ziegeldach ihres Häuschens aufblitzen.
    Nein, sie würde auch dafür kämpfen, dass dieser kleine wunderschöne Flecken Erde noch lange so friedlich, unberührt und ursprünglich blieb. Und sie dachte an die Worte Trimmels, der einmal zu ihr sagte: „Viele Menschen sehen hier nur das schnelle Geld! Sie wollen Lifte, Bergbahnen und Golfplätze mit Kunstrasen. Sie möchten am liebsten Autobahnen bis auf den Gipfel des Buckligen Berges bauen, damit die kostbaren Touristen keinen Schritt zu Fuß gehen müssen! Doch Gott hat uns mit Füßen an den Beinen und nicht mit Autos daran erschaffen, denn die Fahrzeuge hat schließlich der Mensch erfunden! Diese armen verblendeten Idioten wissen gar nicht, in welch schönem Teil der Erde sie hier leben! Und blind vor Gier erkennen sie nicht, dass nur sanfter Tourismus in einer noch möglichst unberührten Landschaft auch auf Dauer zufriedene Touristen garantiert. Denn das schnelle und manische Leben, die teilweise unmenschlichen Anforderungen und der ewige Druck am Arbeitsplatz und die andauernde Technisierung unserer Welt machen die Menschen in den großen Städten krank. Ein paar Wochen Urlaub