Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
eines der beiden Portale zum Königreich Anavrin gefunden.«
32
»Beim Allmächtigen«, murmelte Kenrick, wie verzaubert von dem Anblick der paradiesischen Landschaft, die sich jenseits des magischen Portals in ihrer ganzen Pracht erstreckte.
Bäume in üppigem Grün und Blumen in den verschiedensten Farbspielen prägten die Landschaft, die mit dunklen, fruchtbaren Böden, sich sanft im Winde wiegenden Gräsern und kristallklaren Seen gesegnet war. Weit in der Ferne erhoben sich die weißen Türme einer wehrhaften Burg, die im Sonnenlicht des anbrechenden Morgens glitzerte, als seien die Mauern aus den strahlenden Sternen des Firmaments zusammengefügt worden. Und über all dies spannte der Himmel sein blaues Band, ganz so, als hätte Gott diesen Ort vor allen anderen ausgezeichnet.
Kenrick war, als blicke er geradewegs auf den Garten Eden, und es raubte ihm schier den Atem, dass es einen solchen Ort tatsächlich gab.
»Welch furchtbare Strafe, einen Ort wie diesen verlassen zu müssen«, sagte er halblaut, drehte sich dann um und sah, dass Haven dem Portal den Rücken zugekehrt hatte. »Möchtest du dir nicht deinen Geburtsort anschauen?«
»Nein.«
Da er den Schmerz in ihrer Stimme wahrnahm, trat er dicht vor sie und strich ihr sanft über die Schultern. »Warum schaust du nicht hin, Haven? Was hindert dich daran, die Pracht deiner Heimat auf dich wirken zu lassen?«
»Ich kann … es nicht.«
»Was fürchtest du? Dass du den Blick nicht mehr von dem Reich wenden kannst, sobald du die Schönheit Anavrins siehst?«
Sie schwieg, doch den Kummer in ihren Augen konnte sie nicht verbergen. Inzwischen kannte er sie zu gut. Er wusste, was in ihrem Herzen vorging – bei Gott, beizeiten beschlich ihn das Gefühl, als schlügen ihre Herzen geradezu im selben Takt, als kenne der eine die Freude und den Schmerz des anderen.
»Haven, dreh dich um und sieh an, was dich erwartet.«
Mit offensichtlichem Widerwillen warf sie einen scheuen Blick auf das Portal, durch das reines, weißes Licht flutete – einladend und verheißungsvoll. Als könne sie der Kraft des Leuchtens nicht widerstehen, hob sie langsam eine Hand und streckte den Arm aus. Das Licht erfasste sie und wand sich wie hell schimmernde Reben um ihren Arm.
Auch Kenrick spürte die magische Anziehungskraft von Anavrin, fühlte die Verheißung einer heiligen Stätte, die so rein und immerwährend war, dass sie nur von Nebeln und Mythen umgeben sein konnte. Nur eine außergewöhnliche Frau wie die, die nun wenige Schritte von ihm entfernt stand, konnte einem derart magischen, wundersamen Ort entstammen.
Anavrin war der Ort, an den sie gehörte.
Dies sah er nun klarer denn je. Auf der anderen Seite des Portals warteten Freiheit und ein neues Leben auf sie. Und er war nicht so selbstsüchtig, den Wunsch zu hegen, Haven möge bei ihm bleiben, außerhalb des Friedens und der Sicherheit ihrer wahren Heimat.
»Kenrick!« Rands Ruf drang durch die Flammen, die immer noch die Kapelle teilten. »Bring den Schatz herüber, Freund. Die Zeit läuft uns davon. Ich mache die Pferde bereit, wir müssen fort von hier.«
»Er hat recht«, sagte Kenrick und konnte dem Verlangen kaum widerstehen, Haven, die in gleißendes Licht gehüllt auf der Schwelle zu Anavrin stand, zu berühren. »Wir haben einen Auftrag zu erfüllen.«
Sie sah ihn nicht an. Ihre Stimme klang leise, beinahe wie von ferne her. »Wirst du gemeinsam mit Rand die restlichen Kelchsteine suchen?«
»Ja. Ich bin sicher, dass ich Serasaar bald finde, vor allem jetzt, da ich zwei Steine besitze, die mich führen werden.«
»Zuerst musst du den Tor verlassen.«
»Ja. Und das werde ich erst tun, wenn ich weiß, dass du dort bist, wo du hingehörst. Wir wissen nicht, wie lange dieses Portal offen stehen wird. Du musst hindurchgehen, Haven. Jetzt!«
Sein Befehl klang streng. Kenrick hätte von sich selbst nicht gedacht, in diesem Augenblick einen so barschen Tonfall anschlagen zu können. Doch trotz der unmissverständlichen Aufforderung ließ Haven die Hand langsam sinken. Sie wandte sich ihm zu, und Tränen schimmerten in ihren smaragdgrünen Augen. Das Licht, das durch Anavrins Portal flutete, tanzte Flammen gleich in ihren Augen und verlieh ihr eine überirdische Schönheit, die ihm fast den Atem raubte.
Schließlich blinzelte sie, und das Leuchten schwand, ganz so, als sperre sie sich gegen die Macht ihrer Welt.
»Ich kann nicht«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Anavrin ist nicht mehr mein
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