Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Sie durfte nicht zulassen, dass ihr Geliebter die unsichere Reise allein unternahm.
Sowie Kenrick den ersten Schritt machte, packte Haven seine Hand und hielt sich an seinem Arm fest. Das Gesicht an seine Schulter gepresst, folgte sie ihm durch die Wand aus hell lodernden Flammen.
Hinter den geschlossenen Lidern nahm sie einen grellen hellroten Feuerschein wahr, Hitze umfing sie von Kopf bis Fuß, während sie und Kenrick durch die Wand aus Feuer sprangen. Von allen Seiten leckten die Flammen empor, raubten ihr den Atem, drangen bis in ihr Innerstes.
Haven durchlebte einen Augenblick unbeschreiblichen Schreckens, denn sie vermochte nicht zu sagen, welches Feuer sie stärker zu verzehren drohte: die Flammenwand, durch die sie sprangen, oder die dunkle Macht des Drachenkelchs, den Kenrick fest in der anderen Hand hielt.
Beide Feuer waren stark genug, sie zu vernichten. Aber nun war es zu spät, um umzukehren. Kenrick schloss seine Finger fest um ihre Hand und verlieh Haven Trost und Sicherheit, als er spürte, dass Furcht und Feuer sie zu verschlingen drohten.
Er ließ sie nicht los, auch dann nicht, als ihre Füße jenseits des Infernos endlich wieder festen Boden berührten.
Rasch stellte Kenrick den kostbaren Kelch auf den Kachelboden, ehe er sich Haven aufgebracht zuwandte und sie mit zittrigen Händen an den Schultern packte. »Bei Gott, Frau! Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«
Doch er ließ ihr keine Zeit für eine Antwort, sondern zog Haven fest an sich. Eng hielt er sie umschlungen, und sein Herz pochte gegen das ihre, während die Wand aus Feuer zischend und knackend hinter ihnen aufschoss. Einen leisen Fluch ausstoßend, umschloss er ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie mit einer Verzweiflung, die Haven nie zuvor bei ihm wahrgenommen hatte.
»Ich konnte dich nicht alleinlassen«, flüsterte sie an seinem Mund und schlang beide Arme um seinen starken Leib. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass … «
Er unterbrach sie mit einem Laut, aus dem eher Erleichterung als Wut sprach. »Ist dir eigentlich klar, welcher Gefahr du dich damit ausgesetzt hast? Du törichte kleine Närrin … «
Wieder küsste er sie, diesmal noch leidenschaftlicher, und Haven wusste, dass sie für diesen Mann immer wieder ihr Leben aufs Spiel setzen würde. Sie liebte ihn, und dagegen verblassten alle anderen Dinge.
»Heiliger!« Rands Stimme drang durch die Flammen, die nach wie vor den gesamten Kapellenraum von dem Durchgang zur Sakristei trennten. »Heiliger, kannst du mich hören? Sprich zu mir, Freund! Ich kann dich nicht sehen.«
»Wir sind hier«, rief Kenrick und hielt Havens Blick gefangen. »Wir sind unversehrt angekommen!«
»Und der Kelchstein? Ist er dort, wie sie behauptet hat?«
»Ja«, rief Kenrick über die Feuersbrunst hinweg. »Er steht hier. Genau wie Haven es sagte.«
Erst jetzt ließ er sie los und trat an den Marmorsockel, den sie von der anderen Seite aus beschrieben hatte. Haven hörte, dass Kenricks Atem in der Aufregung schnell und flach ging, während er die Hand nach dem zweiten Teilstück des Drachenkelchs ausstreckte. Dann schlossen sich seine Finger um den Fuß aus getriebenem Gold.
Ehrfurcht und Triumph flammten in seinen Augen auf, als er sich wieder zu Haven umwandte, den mystischen Schatz fest in der Hand.
»Wir haben es geschafft, meine Liebe. Wir haben es tatsächlich geschafft!«
Haven wagte sich nicht näher an den Kelch heran, denn die Hitze seiner dunklen Kräfte schien sie bereits zu versengen, wenn sie den Schatz nur ansah. Dennoch überwog die Neugierde, und so betrachtete sie das Gefäß, das für die Bewohner Anavrins ebenso schön wie tödlich war.
Sogleich fiel ihr Blick auf den kunstvoll gearbeiteten Stiel, um den sich der kleine Drache wand, der den blutrot funkelnden Stein in seinen Klauen hielt. Das Kernstück des kostbaren Gefäßes führte Blut und Feuer zusammen – Leben und Tod schienen in dem pulsierenden Rubin miteinander verwoben.
»Vorimasaar«, hörte sie ihr eigenes Flüstern.
Kenrick nickte. »Der Stein des Glaubens«, sprach er und lächelte, als er den anavrinischen Namen in seine Sprache übersetzte. Sein Blick wurde nachdenklich, während er das goldene Gefäß in seiner Hand bewunderte. »Es war in der dunkelsten Stunde ihres Lebens, als Braedon und Ariana Calasaar fanden, in jener Nacht vor all den Monaten in Frankreich. Selbst der Mond hatte sein Antlitz verborgen.«
Haven zog eine Braue hoch, als sie sich die
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