Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
argwöhnischem Blick und furchte die Stirn. Zu Haven gewandt sprach er: »Ich frage mich, ob meine Schwester womöglich befürchtet, ich würde Euch stattdessen das Verlies zeigen.«
Ariana schüttelte empört den blonden Lockenschopf. Mit einem Seufzen legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Benimm dich«, wisperte sie dicht an seinem Ohr und wandte sich dann zum Gehen.
Haven konnte nur erstaunt zusehen, wie Ariana und Braedon sich verabschiedeten, Hand in Hand davonschritten und sie in der fragwürdigen Gesellschaft von Kenrick of Clairmont zurückließen.
8
Es war überhaupt nicht Kenricks Absicht gewesen, mit dem hübschen Gast an seiner Seite gemächlich durch die Burganlage zu schlendern. Im Turmgemach wartete Arbeit auf ihn, dazu noch zahllose andere Aufgaben, die ihm dringlicher erschienen als die Rolle eines Gastgebers, in die seine wohlmeinende Schwester ihn da plötzlich gedrängt hatte.
Es war schon ungewöhnlich gewesen, dass er seine Studien in der Frühe unterbrochen hatte, um unten im Burghof das Schwert zu schwingen, aber an diesem Morgen war er mit dem Verlangen aufgewacht, sich körperlich zu betätigen. Und als Braedon dann einen Übungskampf vorgeschlagen hatte, war Kenrick gleich Feuer und Flamme gewesen.
Ungewohnt oder nicht, Kenrick hatte nicht damit gerechnet, dass sein Erscheinen im Burghof so viele begeisterte Zuschauer anziehen würde, ganz zu schweigen von Haven. Ihre Anwesenheit im Kreis der Schaulustigen hatte ihn eigenartig berührt. Er war weder auf den Anblick ihres schönen Antlitzes noch auf das Leuchten ihrer smaragdgrünen Augen vorbereitet gewesen, als sie jede seiner Bewegungen verfolgte.
Kaum hatte er sie in der Menge erblickt, da war sein ganzer Körper von einer drängenden Anspannung erfasst worden.
Kenrick räusperte sich.
»Hier entlang«, sagte er und bedeutete ihr, an seiner Seite zu gehen.
Obwohl seinem Tonfall nur ein Anflug von Ungeduld anhaftete, zögerte Haven. »Wirklich, Ihr braucht jetzt keinen Rundgang mit mir zu machen. Ich bin mir sicher, dass Ihr noch zahlreichen Verpflichtungen nachkommen müsst … «
»Das kann doch warten«, sagte er und fragte sich im selben Augenblick, warum er ihre Worte nicht zum Anlass nahm, sich höflich zurückzuziehen, zumal er eben gerade noch nach einer solchen Ausrede gesucht hatte. Doch er blieb, vermutlich weil ihr nicht viel an seiner Gesellschaft lag, weil seine Nähe ihr geradezu widerstrebte. »Habt Ihr nicht den Wunsch, ein wenig mit mir durch die Burg zu gehen, Demoiselle?«
Sie wägte seine Frage ungewöhnlich lange ab und nagte an der Unterlippe, als sie zu ihm aufschaute. Doch dann lächelte sie, zögernd zunächst, eher aus Höflichkeit als aus wirklicher Freude. »Ich würde mir niemals anmaßen, darüber zu befinden, ob Ihr bleiben oder lieber gehen solltet, Lord Kenrick. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass die Wahl bei Euch liegt.«
»Also gut. Dann lasst uns gehen, Haven.«
Daraufhin nickte sie kurz, ehe sie schweigend den Pfad entlangschritten.
Kenrick fiel die Vorstellung schwer, dass die übel riechende, halb dem Tode geweihte junge Frau, die er auf dem Felsvorsprung in der Nähe von Greycliff Castle gerettet hatte, dieselbe Frau sein sollte, die nun so anmutig neben ihm einherschritt, in stolzer, aufrechter Haltung. Das Gehen schien ihr kaum noch Mühe zu machen. Mit dem seidenen Gewand, das ihre Rundungen betonte, und ihren feurigen Locken, die sie zu einem losen Zopf zurückgebunden hatte, sah Haven so edel aus wie eine Dame von Rang. Die bleiche, hilflos und verstört wirkende junge Frau war so vollkommen verschwunden, als habe es sie nie gegeben. An ihre Stelle war eine ungemein anziehende Frau getreten, die manch ein Geheimnis zu hüten schien. Der duftige Wohlgeruch von Blumen und würzigen Kräutern entströmte ihrem Haar.
Sosehr er auch darum bemüht war, Abstand zu seinem Gast zu wahren, spürte Kenrick doch, dass ein Teil von ihm diese Frau näher kennenlernen wollte, um hinter ihr Geheimnis zu kommen.
Allein durch ihre Gegenwart übte Haven eine unsichtbare Wirkung auf ihn aus, genauso wie jetzt, da sie schweigend neben ihm ging und sich von ihm durch das Gedränge auf dem Burghof geleiten ließ.
»Ich hoffe, dass es Euch an nichts fehlt«, sagte er. Die Frage klang steif und förmlich, beinahe streng.
»Ich habe alles, was ich brauche«, antwortete sie.
»Eure Wunde wird versorgt?«
Haven nickte und warf ihm einen
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