Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Es war schwer, überhaupt etwas erkennen zu können. Da war der Rauch … überall. Man konnte kaum noch atmen.«
Nun hatte sie die Augen geschlossen, und Kenrick spürte, dass sie die schrecklichen Ereignisse aufs Neue durchlebte. Ihre Stirn war zerfurcht und ihre Lippen vor Anspannung zusammengepresst. Sie stieß einen schweren Seufzer aus und suchte dann wieder Kenricks Blick.
»Einer von den Angreifern sagte etwas. Etwas … Verwirrendes.«
»Fahrt fort.«
»Sie suchten nach etwas. Sie wollten wissen, wo es versteckt war.«
Kenrick blickte sie gespannt an. »Wisst Ihr, wonach die Männer suchten?«
»Nein.«
»Könnt Ihr Euch erinnern, ob sie gefunden haben, wonach sie suchten?«
»Nein«, erwiderte sie, zunehmend aufgeregt. »Ich weiß nur, dass sie etwas suchten. Sie riefen einem Mann zu, er solle ihnen sagen, wo sie es finden könnten. Sie sagten, es sei noch nicht zu spät – er könne sie immer noch retten, wenn er das Versteck preisgäbe.«
»Wen hätte er noch retten können?«, wollte Kenrick wissen. Eine düstere Vorahnung bemächtigte sich seiner.
Haven sah ihn sehr ernst an. Ihre Lippen bebten. »Seine Familie.«
Kenrick presste einen leisen Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Diese elenden Bastarde! Hat er ihnen das Versteck verraten? Hat Rand den Schurken das gegeben, was sie verlangten?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war sehr leise. »Ich weiß es nicht.«
Kenrick nahm die Neuigkeiten mit einer Mischung aus Schmerz und Hoffnung auf. Er wusste, dass Randwulf ein starker Mann war, der hehre Ideale vertrat. Er hatte sich mit einem Schwur verpflichtet, niemals das Versteck des Siegels preiszugeben und es stets zu schützen. Doch der Gedanke, dass er für diesen Schwur womöglich das Leben seiner Familie aufs Spiel gesetzt hatte, rief ein nagendes Gefühl der Reue in Kenrick hervor.
Er hatte seinem Freund viel abverlangt. Zu viel.
»Könnt Ihr Euch noch an irgendetwas anderes erinnern?«, fragte er nun und drängte die Gefühle beiseite, die ihm bei der Beurteilung der Ereignisse nur hinderlich waren. »Oder habt Ihr mir schon alles erzählt?«
»Ja, das ist alles, was ich weiß«, antwortete sie.
Sie kam nun auf ihn zu und blieb auf Armeslänge von ihm entfernt stehen. Ihr Blick fiel erneut auf das Schreibpult, glitt über den Stapel Schriften und ruhte schließlich auf einem kleinen Gegenstand am Rand des Tisches, der halb unter Pergamenten verborgen lag. Die fein gearbeitete Goldkette des Anhängers funkelte im schwachen Licht des Zimmers.
»Diese Halskette«, sagte Haven und zog die Stirn kraus, als sie die Hand ausstreckte, um das Schmuckstück hochzuheben. »Ich kenne sie … sie gehörte Elspeth.«
»Ja, das stimmt.«
»Nie habe ich sie ohne diese Kette gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte er nüchtern und beobachtete, wie Haven die beschädigte Kette und das filigrane Herz durch ihre Finger gleiten ließ. »Ich fand die Kette auf dem Friedhof von Greycliff Castle, an jenem Tag, als ich Euch sah.«
Sie blickte nur kurz zu ihm herüber, ehe sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem zerbrechlichen Schmuckstück widmete, das Rand seiner Gemahlin als Zeichen seiner Liebe geschenkt hatte. »Ein Kettenglied ist gebrochen.«
»Ja. Es muss während des Kampfes gerissen sein, oder danach … « Kenrick ließ von den düsteren Mutmaßungen ab, denn er weigerte sich, sich auszumalen, was seine treuen Freunde hatten erleiden müssen. »Ich habe sie gesäubert und auch schon versucht, das Kettchen zu reparieren, aber es ist eine feine Goldschmiedearbeit. Meine Hände sind dafür zu groß. Ich verstehe mich mehr auf das Schwert oder die Schreibfeder.«
»Darf ich es versuchen?« Sie warf ihm einen entschlossenen, hoffenden Blick zu. »Ich mache es gern, falls Ihr nichts dagegen habt.«
»Keineswegs. Nur zu, versucht es. Dort liegt ein kleiner Hammer, solltet Ihr Werkzeug benötigen.«
Haven beugte sich über das Pult, die Züge angespannt, die Sinne bereits ganz auf die Arbeit gerichtet. Während sie das gebrochene Kettenglied untersuchte, holte Kenrick eine neue Kerze und entzündete sie am Kaminfeuer. »Es könnte hilfreich sein, wenn Ihr das Metall erhitzt, dann wird es biegsamer.«
Bereitwillig nahm sie seinen Rat und seine Hilfe an und ließ sich voll und ganz von der neuen Aufgabe vereinnahmen. Kenrick musste unwillkürlich lächeln, als er der jungen Frau zusah, da ihm diese Hingabe an eine Arbeit mehr
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