Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
lautlos mit den dunklen Schatten des langen Ganges verschmolz.
Als er auf seine Hand hinuntersah, die zur Faust geballt war, bemerkte er, dass er den Gänsekiel zerdrückt hatte.
13
Auch für den Rest der Nacht kam Haven nicht zur Ruhe, aber als sie am Morgen aufstand, schien die Sonne, und eine leichte Frühlingsbrise strich über die Felder. Bald kam Ariana und löste ihr Versprechen ein, ihren Gast mit in den Garten zu nehmen.
Zu Havens Freude hatte Ariana einen Korb mit Speisen und leichtem Wein aus der Küche mitgebracht, sodass sie die Mittagsmahlzeit im Freien einnehmen konnten. Umgeben von Blumenbeeten und Kräutern genossen die beiden Frauen den geräucherten Fisch und das noch ofenwarme Brot und waren froh, einmal außerhalb des Burgfrieds zu sein.
Haven erfreute sich an der Luft im Freien und ließ den Blick über den großen Garten schweifen. Hier, inmitten der Rosmarinbüsche und des Waldmeisters, kam sie innerlich zur Ruhe. Die bedrückenden Erinnerungen und das sonderbare Gefühl, das sie in der Nacht zuvor auf den Zinnen überkommen hatte, verblassten im Duft der Frühlingsblüher und im Farbenspiel des prächtigen Blütenmeers, das sie von allen Seiten umgab.
Sie saß auf einer niedrigen Bank, nur durch einen schmalen Pfad von Ariana getrennt, und griff nun in den Korb, der zwischen ihnen stand. Vorsichtig löste sie einen Zweig Minze aus dem Kräuterbündel, das für die Abendmahlzeit bestimmt war. Während sie zusah, wie Ariana einige Blätter von einem Lorbeerbusch abtrennte, kaute sie ein wenig auf dem erfrischenden Blättchen.
Da ihr Erinnerungsvermögen nach wie vor lückenhaft war, wusste Haven nicht, wohin sie wirklich gehörte. Jedenfalls nicht nach Cornwall, dessen war sie sich ziemlich sicher. Und auch nicht auf diese Burg. Aber die Vorstellung war durchaus verlockend, ihr Leben an einem Ort wie Clairmont Castle zu verbringen. Der Ort passte vielleicht nicht ganz zu ihr – ebenso wenig die geborgten Kleider und die etwas zu engen Schuhe – , aber die Burg strahlte eine Ruhe aus, die Haven zu genießen begann.
Clairmont Castle hatte seinen eigenen Zauber, da war Haven einer Meinung mit Ariana. Inmitten ihrer Blumenbeete schien die Schwester des Burgherrn vor Heiterkeit und Lebensfreude nur so zu glühen. Sie war eine Frau, die mit ihrer Stellung in der Welt zufrieden war, und für diesen inneren Frieden beneidete Haven die blonde Frau.
»Ihr seid heute so still«, merkte Ariana nach einer Weile an. »Belastet Euch etwas?«
»Nein.« Haven schüttelte leicht den Kopf. »Ich denke nur gerade nach.«
»Ich hoffe, Ihr wisst, dass Ihr immer offen über alles mit mir sprechen könnt, Haven. Wir sind doch Freundinnen, oder nicht?«
Arianas wohlmeinendes Lächeln rief Zuneigung in Havens Herz hervor. Sie konnte sich zwar nur bruchstückhaft an ihre Vergangenheit erinnern, doch sie hatte das Gefühl, in ihrem früheren Leben nur wenige Menschen zu ihren Freunden gezählt zu haben. Befreundet zu sein, erschien ihr beinahe abwegig, als habe sie sich ein Gut wie Freundschaft absichtlich selbst versagt. Doch jetzt sah sie keinen Grund, dies weiter so zu handhaben. Tatsächlich war sie froh und dankbar, nicht allein zu sein. Froh, zumindest eine Vertraute in dieser fremden, wenngleich angenehmen Umgebung zu haben.
»Ich habe bloß darüber nachgedacht, wie gut es tut, im Freien zu sein. Ich mag diesen Garten sehr.«
Ariana strahlte über das ganze Gesicht. »Der Garten ist auch mein ganzer Stolz, wisst Ihr. All diese Beete habe ich selbst angelegt.«
»Sie sehen wunderbar aus.«
»Wenn Ihr mögt, könnt Ihr Euch ein paar Blumen für Euer Zimmer abschneiden.«
»Ihr hättet nichts dagegen?«
»Gar nicht«, erwiderte Ariana und beugte sich vor, um Havens Hand zu drücken. »Dort in der Ecke, das sind Veilchen, und da drüben stehen Lilien, im Schatten des Laubengangs … «
Ariana hielt mitten im Satz inne, und ihre Miene hellte sich auf, als Hufschlag auf dem gepflasterten Burghof zu hören war. »Das werden Braedon und Kenrick sein. Sie sind zurück!«
Die beiden Männer waren bereits vor Sonnenaufgang ausgeritten, in einer Angelegenheit, die man Haven nicht mitgeteilt hatte. Jetzt stand Ariana auf und strich sich den Staub und die Blätter von ihrem Rock. Eine anmutige Röte überzog ihre Wangen, ihr Lächeln war betörend, und eine aufrichtige Freude lag in ihren klaren blauen Augen. Sie legte sich den dicken, honigblonden Zopf über die Schulter und hängte sich den Korb mit den
Weitere Kostenlose Bücher