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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Außerdem hatte sie schlecht geträumt, von Emily, die in einem Zug saß, der aus dem Bahnhof rollte, während sie, Lorraine, schreiend draußen nebenherlief und mit den Fäusten an die Fensterscheibe trommelte, direkt vor dem verwirrten und ängstlichen Gesicht ihrer Stieftochter. Am Morgen fand sie Asche und Zigarettenstummel auf dem Teppich und Weinflecken im Bett. Michaels Haar lag platt wie gewalzter Teer um seinen Kopf. Von der Kommode blickte Emily lächelnd zu ihnen herab: Bald war es eine Woche her.
    Als Michael endlich erschien, war es zehn vor elf. Lorraine saß hinten im Wohnzimmer und schnitt aus Zeitschriften Rezepte aus, die sie irgendwann einmal ausprobieren wollte. Auf dem niedrigen Tisch lagen das Heft, das sie eigens gekauft hatte, um sie einzukleben, und der Kleber.
    »Gott, habe ich einen widerlichen Geschmack im Mund«, sagte Michael.
    »Geschieht dir recht«, sagte Lorraine und entschied sich, den Schellfisch Mornay wegzulassen.
    »Blöde Gans«, entgegnete Michael und ging zur Küche.
    Lorraine beschloss diplomatisch, seine Worte zu überhören.
    Als es draußen läutete, verteilte sie gerade ihre Rezepte auf dem Tisch und überlegte, in welcher Reihenfolge sie sie einkleben sollte; Michael trank Pulverkaffee mit Zucker und wartete darauf, dass das geröstete Brot aus dem Toaster sprang. Beide erreichten die Haustür etwa zur selben Zeit.
    »Hallo«, sagte die Frau im grünen Dufflecoat. »Sie kennen mich nicht, ich bin Jacqueline Verdon. Jackie. Ich bin eine Freundin von Diana.«
    »Von meiner Diana?«, rief Michael überrascht.
    »Na ja«, meinte Jackie Verdon, »das war einmal.«
    »Es ist ihr doch nichts …«
    »Nein, nein. Es geht ihr gut. Ich wollte nicht … Ich wollte damit nur sagen, dass es eine merkwürdige Art ist, sie zu beschreiben. Als Ihre .«
    »Möchten Sie nicht hereinkommen?«, fragte Lorraine und trat zur Seite.
    »Doch, gern. Danke. Vielen Dank.«
    »Wohnen Sie hier in der Gegend?«, fragte Michael. Sein ganzer Kopf dröhnte, wenn er sprach.
    »Nein«, antwortete Jackie. »Ich lebe in West Yorkshire. In Hebden Bridge. Ich habe dort eine Buchhandlung. Ein Antiquariat.«
    »Ach so, als Sie sagten, Sie seien eine Freundin von Diana, dachte ich …«
    »Wir haben uns bei einem Wanderurlaub kennengelernt. Das heißt, ein Urlaub in dem Sinn war es nicht. Nur ein Wochenende. Im Lake District. Privatunterkünfte, geführte Wanderungen und so.«
    »Ich wusste gar nicht, dass Diana gern wandert.«
    »Na ja, ich kann mir vorstellen, dass es eine ganze Menge Dinge gibt, die Sie nicht über Diana wissen. Oh, verzeihen Sie, das klingt fürchterlich. Ich wollte nicht so … Es war nicht meine Absicht, taktlos zu sein.«
    »Schon in Ordnung«, sagte Michael verärgert.
    »Aber Sie müssen verstehen, im letzten halben Jahr hat sich bei Diana vieles verändert. Sie hat angefangen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.«
    »Ah ja, und deswegen ist sie jetzt wieder in der Klinik?«
    »Sie hat sich vielleicht ein bisschen zu sehr unter Druck gesetzt; vielleicht wollte auch ich zu schnell zu viel, ich weiß es nicht. Aber ihr jetziger Zustand, ich bin sicher, das ist eine vorübergehende Geschichte. Nicht einmal ein Schritt zurück; nur einer zur Seite. Ich bin überzeugt, Diana geht es bald wieder ganz gut.«
    »Tatsächlich?«
    »Ich war bei ihr. Heute. Und Sie?«
    »Ich hatte anderes im Kopf.«
    »Ja, natürlich, ich weiß. Und es tut mir leid. Aber Emily ist auch Dianas Kind.«
    Lorraine kam mit Kaffee und zwei Sorten Keksen, Schokolade und Zitronencreme. Es folgten höfliche Fragen, ob Milch und Zucker oder nicht, ein kurzer Austausch über Weihnachten, dass der Rummel jedes Jahr früher begann, und ein paar nichtssagende Worte über das Wetter.
    »Weiß es Diana?«, fragte Michael.
    »Dass Emily verschwunden ist? Nein. Und sie darf es auf keinen Fall erfahren. Jedenfalls vorläufig nicht. Hauptsächlich deswegen bin ich hergekommen. In der Klinik ist sie gut von den Medien abgeschirmt, die Leute dort sind sehr hilfreich. Aber das kann natürlich auf die Dauer nicht so bleiben, und wenn Diana sich erst einigermaßen erholt hat, wird es auch gar nicht möglich sein.« Jackie Verdon sah Lorraine und Michael an und lächelte. »Aber bis dahin ist Emily bestimmt sicher und wohlbehalten wieder zu Hause.« Sie holte tief Atem. »Wenn nicht, sollte ich es ihr beibringen, finde ich.«
    Michael warf einen Blick auf Lorraine und setzte zu einer Erwiderung an, fand aber nicht die richtigen

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