Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Blick zu ihr. »Ich nehme gleich eine von meinen Tabletten«, sagte sie.
Lynn ging ins Schlafzimmer hinauf und brachte ihr das Fläschchen und ein Glas Wasser dazu.
»Im Nachttisch Ihres Mannes war ein Foto von Ihnen mit einer Ihrer Klassen«, bemerkte Lynn und setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorher Stephen gesessen hatte. »Haben Sie eine Ahnung, wie es dahin gekommen ist?«
Joan Shepperd kippte eine der Tabletten in ihre geöffnete Hand. »Nicht die geringste.« Sie legte die Tablette etwa in die Mitte ihrer Zunge, trank Wasser und schluckte. »Es ist wahrscheinlich versehentlich dahin geraten«, sagte sie.
Millington hielt die Fotografie in beiden Händen. »Wen erkennen Sie darauf?«, fragte er.
Stephen Shepperd blinzelte. »Joan, natürlich, meine Frau.«
»Wen noch?«
»Ich weiß nicht, ob da noch jemand dabei ist.«
»Schauen Sie es sich noch mal an.«
Shepperd schien zu tun, was von ihm verlangt wurde, doch die Zeit zog sich und er sagte nichts.
»Schauen Sie auch hin, Mr Shepperd?«, fragte Millington.
»Ich muss Sie bitten, meinen Mandanten nicht zu bedrängen«, fuhr Shepperds Anwalt dazwischen und handelte sich einen Blick eisiger Drohung von Resnick ein.
»Schauen Sie genauer hin«, riet Millington und schob das Foto näher zu ihm. »Sehen Sie sich zum Beispiel die untere Reihe an.«
»Denken Sie daran«, sagte Resnick, »von wem Sie gestern gesprochen haben. Es ist alles auf Band.«
Shepperd kniff demonstrativ die Augen zusammen. »Ist sie das?«
»Wer?«
»Das kleine Mädchen. Gloria.«
»Sagen Sie es mir.«
»Ja, es könnte sein. Es sieht ihr nicht besonders ähnlich.«
Meinetwegen, dachte Resnick, spiel auf Zeit, halte uns hin, wir werden ja sehen, wer am Ende den längeren Atem hat. »Wozu hatten Sie dieses Foto neben Ihrem Bett, Mr Shepperd?«
»Es war nicht neben meinem Bett.«
»Es war in dem Nachttisch neben Ihrem Bett.«
»Das ist nicht das Gleiche.«
»Aber fast.«
»Nein, es ist nicht das Gleiche …«
»Das Gleiche wie was?«
»So wie Sie das sagen, das klingt, als ob … na ja, als hätte ich es da liegen gehabt, um es mir anzuschauen.«
»Was tut man denn sonst mit einem Foto?«
Shepperd wollte antworten, sah aber dann nur seinen Anwalt an. Resnick und Millington sahen ihn ebenfalls an, als wollten sie sagen, untersteh dich! Der Anwalt war einschlanker Mann Ende fünfzig mit dunkel geränderter Brille und grauem Haar. Sein blauer Anzug war zerknautscht von der Autofahrt, und er hatte vergessen, das Schildchen von seinem Revers zu nehmen, das ihn als Delegierten des Arnold-Bennett-Festivals auswies. Beruflich hatte er meistens mit Grundstücksübertragungen und kleinen Schadenersatzsachen zu tun.
»Passen Sie auf, Stephen«, Resnick stand auf und streckte sich ein-, zweimal, »wir machen jetzt sowieso bald Pause. Aber vielleicht können Sie uns vorher noch etwas über diese anderen Fotos sagen?«
Shepperd drückte beide Hände an seine Schläfen, und Resnick ahnte, dass unter ihnen dieser verräterische Nerv zu zucken begann. Gemächlich zog er den Plastikbeutel aus seiner Innentasche; gemächlich ließ er den Stapel Fotos in seine freie Hand gleiten.
»Über dieses hier zum Beispiel«, sagte er und warf das erste vor Shepperd auf den Tisch. »Oder über dieses. Oder dieses. Oder das hier.«
Stephen Shepperds Augen waren geschlossen, fest zugedrückt. Dennoch, vermutete Resnick, sah er alle Einzelheiten eines jeden Fotos, wie bei einem lebhaft erinnerten Traum.
Nachdem sie sich eine Dreiviertelstunde lang vergebens bemüht hatte, Joan Shepperd zum Reden zu bringen, war Lynn überzeugt, dass sie hier nur Zeit vergeudete. Sie versuchte, Resnick zu erreichen, aber da der bei der Vernehmung war, ließ sie sich mit dem Superintendent verbinden.
»Unbedingt«, stimmte Skelton zu. »Kommen Sie zurück aufs Revier.«
»Was ist mit den Morrisons, Sir? Soll ich mich bei ihnen melden und ihnen Bescheid geben, dass wir einen Verdächtigen festgenommen haben?«
»Nein.« Skelton war bestimmt. »Dazu ist es noch viel zu früh.«
Aber Lorraine und Michael Morrison wussten es bereits.
Alle guten Polizeireporter haben Freunde an den richtigen Stellen, und ein besonders guter Freund des hiesigen Reporters hatte Wachdienst gehabt, als Stephen Shepperd aufs Revier gebracht worden war. Ein kurzer und diskreter Anruf, und schon war der Reporter auf dem Weg zu den Morrisons, in seinem Beruf genügte ein Wink.
Michael Morrison hatte in der vergangenen Nacht nur mithilfe
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