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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Abgesehen von allem anderen wollte er sich vergewissern, dass sie nicht sauer war, weil er sie gestern Abend in diese Halle geschleppt hatte, wo Leichen herumlagen. Ihr flinkes Händchen hatte ihm gefallen und auch, dass sie sich hinterher, als er abgespritzt hatte, nicht beschwerte.
    Das war das andere, er wollte nicht, dass sie den Bullen zu viele Einzelheiten erzählte. Sollten die doch ihre Fantasie gebrauchen. Sollten sie doch glauben, er hätte es ihr richtig besorgt, sie brauchten nicht zu wissen, dass es nur ein mickriger kleiner Handjob gewesen war.
    Zwei Beamte in Uniform kamen heraus und blieben einen Moment oben auf der Treppe stehen. Raymond wandte sich ab und ging langsam in Richtung der Bushaltestelle mit der spiritualistischen Kellerkirche gleich daneben. Als er wieder umkehrte, sah er sie kommen. Das grüne Männchen blinkte schon, als sie mit gesenktem Kopf schnell, beinahe im Laufschritt, den Fußgängerübergang überquerte. Er erkannte sie auf den ersten Blick, obwohl sie jetztganz anders wirkte in dem kleinen rosaroten Kostümchen, mit den schwarzen Ballerinas und der schwarzen ledernen Handtasche am abgewinkelten Arm.
    »Sara.«
    »Oh. Ray.«
    »Hallo.«
    »Komm ich zu spät?«
    »Nein, du bist früh dran.«
    »Ich dachte, ich bin zu spät.«
    Er zeigte ihr seine Uhr, erst zehn vor. »Also«, sagte er, »was erzählst du denen?«
    Vielleicht war sie kurzsichtig, so wie sie ihn ansah. Allerdings bestimmt nicht so stark wie seine Tante Jean: Einmal war sein Onkel Terry Weihnachten mit einer roten Schleife um seinen nackten Pimmel ins Zimmer gekommen, während sie ›Sound of Music‹ anschauten, und seine Tante hatte pralinenkauend gesagt: »Terry, was ist denn nur los mit dir? Dir hängt immer noch das Hemd aus der Hose.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Sara.
    »Na ja, über gestern Abend.«
    »Was passiert ist eben. Was wir gesehen haben.«
    »Sonst nichts?«
    »Du kannst ja hier warten, wenn du willst«, sagte sie. »Ich bring’s jetzt hinter mich.«
    Vom Fuß der Treppe aus fragte Raymond: »Du reibst denen doch nicht unter die Nase, was … du weißt schon, was wir …?«
    Ihr Blick zu ihm hinunter war so vernichtend, dass er stehen blieb wie vom Blitz getroffen und immer noch dort unten stand, als Sara die Tür aufzog und hinter sich zuwarf.
    »Hier ist deine große Chance«, verkündete Mark Divine so laut, dass alle im Dienstraum es hören mussten. »Du darfst mir in einer halben Stunde den Korridor runter in einesder Separées folgen und mir den ultimativen Liebesbeweis liefern.«
    Die sechs Beamten im Dienstraum grölten, die Blicke neugierig auf Lynn Kellogg gerichtet, um zu sehen, wie sie reagierte. Einmal hatte sie Divine den Mund mit einem Faustschlag gestopft, und seit diesem legendären Ereignis wartete das ganze Dezernat auf den nächsten. »So eine blöde Kuh! Das nächste Mal«, hatte Divine gelobt, »schlag ich zurück.«
    »Na, Lynn, wie ist es?«, fragte er augenzwinkernd in den Raum.
    Lynn Kellogg tippte einen Bericht über die Besuche, die sie vor dem Wochenende gemacht hatte. Ein alter Mann in den Achtzigern war vom Krankenwagen zu seiner vierteljährlichen Untersuchung abgeholt worden, und einem der Pfleger waren Blutergüsse im Lendenwirbelbereich und auf der Innenseite des Oberarms aufgefallen; die Ersteren passten zu einem Sturz, aber die übrigen …? Zunächst hatte die Tochter, selbst bald sechzig, Lynn ein Gespräch mit dem alten Herrn verwehrt, als sie es dann doch zuließ, erwies dieser sich als so verwirrt, dass kaum etwas Vernünftiges aus ihm herauszubekommen war. Die Sozialarbeiterin hatte ein Gesicht gezogen und auf die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch gezeigt: Sie hatte zuletzt vor etwa fünf Monaten einen Hausbesuch gemacht, weil die Tochter einen Antrag auf einen Handlauf im Badezimmer gestellt hatte. Ja, soweit sie gesehen hatte, war der alte Herr da ganz in Ordnung gewesen.
    »Lynn?«
    Divine war eine Nervensäge, unverbesserlich und unbelehrbar. Aber er hatte sich immerhin zu dem Wort ultimativ aufgeschwungen, was zeigte, dass Jeans-Werbung dem Abspielen der ewig gleichen Motown-Stücke doch einiges voraushatte.
    »Soll ich eine Befragung übernehmen? Von einem der beiden, die die Leiche des Mädchens gefunden haben?«
    »Genau.«
    Lynn riss das Blatt Papier aus der Maschine, stieß ihren Stuhl zurück und stand auf. »Warum zum Teufel sagst du das dann nicht?« Ohne Divine noch eines Blickes zu würdigen, ging sie hinaus, und diesmal stand der

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