Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
waren. Wenn Sie es wussten, dann …«
»Genau, ich hab’s gewusst. Wenigstens hab ich das geglaubt. Es war ja nicht nur der Schuh, da war auch noch eine – Hand, ja, eine Hand, könnte man sagen, ein Teilihrer Hand. Und der Geruch.« Raymond, der bis jetzt auf seine eigenen Finger mit den abgekauten Nägeln hinuntergestarrt hatte, hob den Blick und sah Divine direkt ins Gesicht. »Konnte doch nur sie sein. Oder?«
»Sie?«
»Na, die Kleine, die verschwunden ist. Ist inzwischen eine Ewigkeit her. Sie wissen schon.«
Divine hielt den Atem an. »Sie behaupten also, Raymond, nicht nur augenblicklich gewusst zu haben, dass das in der Ecke eine Leiche ist, sondern auch gleich, wessen Leiche es ist.«
Raymond blickte ihn unverwandt an, ganz ruhig jetzt. »Ja«, antwortete er. »Gloria. Ich hab sie gekannt. Sie hat bei mir in der Nähe gewohnt. Ich hab sie morgens immer gesehen, wenn sie unterwegs war, zur Schule und so. Und an den Wochenenden, wenn sie mit ihrer Oma einkaufen gegangen ist. Ja. Gloria. Ich hab sie immer im Auge gehabt.«
8
»Hier«, sagte der Pathologe. »Nehmen Sie eines.«
Resnick schob eine von Parkinsons extrastarken Pfefferminzpastillen in den Mund und drückte sie mit der Zunge an seinen Gaumen. Es war so still in dem kleinen Büro, dass er das Ticken der altmodischen Taschenuhr hörte, die Parkinson stets an einer Kette über seiner Weste trug. Nur wenn er in eine Schürze schlüpfen musste, legte der Pathologe das Jackett seines dreiteiligen Anzugs ab; und nur wenn sein Assistent ihm ein Paar fleischfarbener Latexhandschuhe hinhielt, nahm er die Manschettenknöpfe ab und rollte sorgfältig die Hemdsärmel auf.
»Ziemlich übel, wie, Charlie?«
Resnick nickte.
»Gut, dass wir sie jetzt noch gefunden haben.«
Resnick nickte wieder und versuchte, nicht an die Bissspuren an dem Leichnam zu denken; an jenen Teil des Gesichts, der beinahe bis auf die Knochen bloßgelegt war.
»Am meisten hat dieser Winter geholfen. Wenn meine verdammt alten Knochen mich nicht trügen, ist das einer der kältesten seit Jahren. Und in solchen Gebäuden, ohne Heizung, ist die Temperatur sicher nie über fünf Grad gestiegen.«
Sie hatten Gloria Summers mithilfe ihrer Zahnarztunterlagen identifiziert und durch einen Vergleich der Knochen mit einem Röntgenbild, das gemacht worden war, als sie sich vor einem Jahr bei einem Sturz den Fuß gebrochen hatte. Susan Summers hatte auf Resnicks Frage, ob sie in die Pathologie kommen und ihr Kind noch einmal sehen wolle, nur die Augenbrauen hochgezogen. »Soll das ein Witz sein?«
»Was können Sie bis jetzt mit Gewissheit über die Todesursache sagen?«, fragte Resnick jetzt.
Parkinson nahm seine Bifokalbrille ab und begann ganz unnötig die Gläser zu putzen. »Eines ist sicher: Sie wurde stranguliert. Ohne Zweifel eine Fraktur der Luftröhre, und auch alle anderen typischen Anzeichen sind vorhanden: Blutergüsse im Hals, dicht beim Zungenbein. Angeschwollene Venen am Hinterkopf infolge des verstärkten Drucks, wenn das Blut nicht entweichen kann.«
»Und daran ist sie gestorben?«
»Nicht unbedingt.« Zufrieden mit seiner Putzaktion setzte Parkinson die Brille wieder auf. »Wir haben außerdem einen Schädelbruch hinten, Extradural- und Subduralblutungen …«
»Sturz oder Schlag?«
»Beinahe mit Sicherheit ein Schlag. Nach Lage der Blutansammlung unterhalb der Fraktur zu urteilen. Sie könntezwar durch einen Sturz eine ähnliche Fraktur davongetragen haben – sie war ja nur ein zartes kleines Ding –, aber durch die Gewalt eines solchen Sturzes wird das Gehirn hart gegen den Schädel geschleudert, da würde ich Blutungen weiter vorn suchen und unter der Fraktur kaum Blut erwarten.«
Resnick zerkaute den letzten Rest der Pfefferminzpastille. »Und was wird im Befund als Hauptursache stehen?«
Parkinson schüttelte den Kopf. »Entweder oder.« Er schob die Hand in seine Westentasche und bot Resnick noch ein Pfefferminz an. »Letztlich wird es wohl keine große Rolle spielen.«
Als Resnick wieder in die Dienststelle kam, fand er in seinem Büro Graham Millington in Klausur mit Kellogg und Divine vor. Einfach Resnicks Sessel zu usurpieren, hatte Millington nicht gewagt, stattdessen stand er direkt daneben, als erwartete er, demnächst zum Platznehmen aufgefordert zu werden. Divine, der überzeugte Sportsmann, hatte natürlich mit seinen Benson & Hedges Silk Cut das ganze Zimmer eingenebelt – so musste Sellafield an einem dunstigen Tag
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