Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
bestimmt nichts sagen würde, und Sie … ich meine, in den Nachrichten hieß es doch ausdrücklich, es sei wichtig.« Sie griff sich mit den Fingern andie lose hängende Haut unter ihrem Kinn. »Dieses arme Kind.«
Millington schraubte seinen Füller auf. »Wie lange war der Herr – äh, Alan – wie lange, würden Sie sagen, war er hier?«
»Das weiß ich nicht genau, bis fünf, nehme ich an. Ja, es muss bis fünf gewesen sein. Mein Mann, wissen Sie, seine Mutter ist in einem Pflegeheim in Hereford, und er fährt sie öfter besuchen. Sonntags. Manchmal sonntags. Nach dem Mittagessen.«
Bald werden wir alle dort landen, dachte Millington, werden landauf, landab ordentlich in unsere Rollstühle gepackt unseren Kartoffelbrei schmatzen und versuchen, uns zu erinnern, mit wem wir damals fremdgegangen sind und warum.
»Sie müssen doch nicht mit ihm sprechen, Sergeant? Wissen Sie, ich dachte, wenn ich es Ihnen erzähle, würde das genügen.«
»Ich notiere mir nur seinen Namen und seine Adresse. Es wird wahrscheinlich nicht nötig sein, mit dem Herrn selbst zu sprechen, aber wenn doch, können Sie sich auf absolute Diskretion von unserer Seite verlassen.«
Der richtige Job für Divine, dachte Millington: Hey, wer von euch hat’s dem Zwerg mit den dicken Stampfern gemacht? Er trug die Einzelheiten sorgsam in sein Heft ein, dann stand er auf. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich gemeldet haben. Jetzt können wir dieses Fahrzeug wenigstens abhaken.«
»Glauben Sie, Sie finden sie?«, fragte Moira McLoughlin an der Tür. »Ich meine, bevor …«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Millington mit einem langsamen Kopfschütteln. »Ich weiß es wirklich nicht.«
21
»Sind Sie verheiratet?«
Lynn Kellogg schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Mit einer Arbeit wie der Ihren ist das sicher schwierig. Ich meine, jemanden zu finden, der bereit ist, so eine Ehe zu führen. Mit Schichtdienst und so.«
»Ja«, antwortete Lynn. »Vermutlich.«
»Aber …« Lorraine Morrison versuchte zu lächeln, was ihr aber misslang, »Sie haben ja noch viel Zeit.«
Erzähl das mal meiner Mutter, dachte Lynn.
Sie saßen hinten im Wohnzimmer mit französischen Fenstern in den Garten, zu dem Lorraines Blick immer wieder schweifte, als müsste wie durch ein Wunder Emily plötzlich wieder da sein und einfach das alte Spiel fortsetzen, mit Puppen und Babys und Mamis und Kinderwagen, das alte Spiel von der heilen Familie.
»Ich war neunzehn«, erzählte Lorraine, »als ich Michael kennenlernte. Wir waren in einem Restaurant. Im ›Mamma Mia‹. Ich war mit einer ganzen Clique Arbeitskolleginnen dort. Von der Bank. Es war eine Abschiedsfeier.«
Lynn nickte. Der Verkehrslärm von der nahe gelegenen Hauptstraße war immer zu hören, dumpf dröhnend, wenn auch durch die Doppelfenster gedämpft. Sie saßen schon so lange hier, dass der dünne Kaffee kalt geworden war und Lynn Zeit hatte, über die unglaubliche Ordnung in diesem Raum zu staunen, in dem jedes Ding seinen genauen Platz hatte, die Vasen, die Kissen mit dem freundlichen Blumenmuster in Blau und Grün, der Druck mit den zartrosa Balletttänzerinnen an der Wand. Als Lynn gekommen war, hatte sie Lorraine beim Staubwischen angetroffen, jedes Nippes und jeden Bilderrahmen hochhebend, um darunter sauber zu machen. Sie stellte sich Lorraine als Kind vor, wie sie ihrer Mutter mit dem Staubsauger von Zimmer zu Zimmerfolgte, genau zusah, sie nachahmte, in ihre Fußstapfen trat. Gut sechs Jahre jünger als Lynn, schon verheiratet, mit einem Ehemann, einem Haus, einem verschwundenen Kind …
»Wir waren wahrscheinlich sehr laut«, sagte Lorraine, »es ging hoch her, wie das so ist bei solchen Feiern. Michael war mit einem Geschäftsfreund dort. Nach einer Weile kam er herüber, tippte mir auf die Schulter und sagte, er und sein Freund hätten spekuliert, was es bei uns zu feiern gebe, und miteinander gewettet. Ich sagte es ihm, und er lachte und rief, er habe gewonnen. Am nächsten Tag in der Bank sah ich ihn plötzlich in der Schlange vor meinem Schalter. ›Die Zweigstelle haben Sie mir ja nicht verraten‹, sagte er, als er dran war. ›Ich habe mir in der ganzen Innenstadt die Hacken abgelaufen.‹ Die Kolleginnen auf beiden Seiten haben genau zugehört, eine hat gelacht, und ich habe gemerkt, dass ich rot wurde. Er schob mir einen Scheck hin, es war nicht mal die richtige Bank. Ich fragte ihn, was er wolle. ›Sie könnten ihn doch indossieren‹, meinte er. ›Adresse und
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