Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Telefonnummer auf der Rückseite.‹ Eigentlich eher um ihn loszuwerden, habe ich es getan.
›Da wirst du Ärger bekommen‹, sagte eine Kollegin. ›Der Mann ist verheiratet. Sieht aber gut aus, das muss man ihm lassen.‹
›Woher weißt du, dass er verheiratet ist?‹, fragte ich. Er hatte keinen Ring getragen, das war mir aufgefallen.
Als ich das erste Mal mit ihm ausging, fragte ich ihn, und er lachte und sagte: ›Wofür halten Sie mich denn?‹ Erst nachdem wir uns ungefähr einen Monat regelmäßig gesehen hatten, sagte er mir die Wahrheit. Ich bin total ausgerastet und habe ihn angebrüllt wie eine Wahnsinnige, als Lügner beschimpft und so. ›Jetzt reg dich nicht so auf‹, sagte er und hielt meine Hände fest. ›Ich hab’s dir nicht früher gesagt, weil es ganz überflüssig war.‹
›Was soll das denn heißen?‹, fragte ich.
›Da habe ich dich noch nicht geliebt‹, hat er gesagt.«
Michael hatte in der Firma angerufen und sich Urlaub genommen, aus familiären Gründen. Als Lynn gekommen war, war er drauf und dran gewesen, das Haus zu verlassen und den Spießrutenlauf an Fotografen und Kameraleuten vorbei auf sich zu nehmen. Sie hatte ihn jedoch davon überzeugt, dass das nicht unbedingt die beste Idee sei, und seither saß er bei heruntergelassenen Jalousien in der Küche, rauchte eine nach der anderen und arbeitete sich zielstrebig durch eine Flasche bulgarischen Wein.
»Fünfzehn Jahre älter. Das war das Einzige, was meiner Mutter zu Michael einfiel. Und dass er geschieden war. Fünfzehn Jahre.« Sie sah Lynn an. »Ich finde das gar nicht so schlimm, Sie?«
Lynn schüttelte den Kopf. »Nein, nicht unbedingt.«
»›Wenn du dreißig bist‹, sagte meine Mutter immer, ›ist er fünfundvierzig. Fast fünfzig. Hast du daran mal gedacht?‹« Lorraine stand an der Fenstertür, ein Rotkehlchen hockte am Rand des Rasens, so reglos, dass man es für ein Plastikspielzeug hätte halten können. »Er ist von seiner Art her viel jünger«, fuhr Lorraine fort. »Normalerweise. Erst seit er seinen Job verloren hat und sich etwas Neues suchen musste, so weit weg, dass er jeden Tag stundenlang im Zug sitzt – da ist er natürlich abends müde. Ist doch klar. Das ginge jedem so. Aber sein Alter hat damit nichts zu tun.«
Lynn stand auf und strich ihren Rock glatt. Sie wusste nicht, wie es Michael erging, aber sie selbst fühlte sich in Lorraines Gegenwart irgendwie jung und alt zugleich. Lorraine war genau der Typ Frau, mit dem sie sich beim Klamottenkauf um nichts in der Welt eine Umkleidekabine teilen würde: Während sie sich mit Müh und Notin eine Zweiundvierzig hineingepresst hätte, wäre Lorraine mit ihrer Modelfigur mühelos in eine Sechsunddreißig geschlüpft. Sie musste an Michelle Pfeiffer in ›Die fabelhaften Baker Boys‹ denken. An die Szene, wo sie mit ihr Kleider kaufen gehen und einer der Bridges-Brüder sie fragt: »Welche Größe haben Sie? Sechsunddreißig?«, und sie ihn nur ansieht und sagt: »Vierunddreißig.«
Lynn liebte den Film, sie hatte ihn dreimal gesehen, aber das hatte sie wirklich umgehauen. Vierunddreißig.
Lorraine hatte außerdem noch das Geld und die Zeit, um sich zu pflegen; jede Woche zum Friseur und regelmäßig auf die Sonnenbank. Sonst würde ihre Haut wohl kaum so braun und gesund aussehen.
»Kann ich mal Ihr Telefon benutzen?«, fragte Lynn. »Ich möchte mich nur kurz bei der Dienststelle melden.«
Raymond war eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit gekommen und Hathersage hatte ihm vor versammelter Mannschaft eine Abreibung verpasst, dass ihm beinahe die Tränen kamen, während er mit gesenktem Kopf dastand und sich innerlich krümmte. Er war kurz davor gewesen, den ganzen Krempel hinzuschmeißen, seine Papiere zu verlangen und einfach zu gehen, direkt in die Stadt, vielleicht hatte Sara ja früher Mittag. Aber er hielt durch, schon aus Angst davor, was sein Vater sagen würde, sein Vater und Terry, die bei ein paar Bier im Pub über sein Leben bestimmten.
Raymond zog also den Kopf ein und arbeitete weiter. Kein Tag dauerte ewig.
Überall bei seiner Arbeit begleitete ihn das Knistern und Knacken von Radios, keines wirklich scharf auf 96.3 eingestellt, keines deutlich zu hören im lauten, schon völlig reflexhaften Schimpfen und Fluchen der Männer, im schrillen Wimmern der Motorsägen, in den dumpf klatschendenSchlägen der Fleischerbeile. Raymond, der gerade einen Gabelstapler ablud, überhörte Emily Morrisons Namen in der Nachrichtenmeldung,
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