Der Kinderpapst
einem
Schicksal, das gröÃer war als er selbst, lieà er die Arme sinken, um seine
Hände zum Gebet zu falten und Gott um Hilfe zu bitten.
ZWEITES KAPITEL: 1036â37
WUNDERGLAUBE
1
Von der Burgkapelle schlug die Glocke zwölf Mal an.
»Schon Mitternacht«, sagte Domenico. »Möchtet Ihr denn heute gar
nicht schlafen?«
»Noch nicht«, erwiderte Chiara und zupfte an dem Kopftuch, das ihr
Haar bedeckte. »Ich bin noch nicht müde.«
»Aber wir haben doch schon vier Partien gespielt.«
»Und alle vier habt Ihr gewonnen. Ich gehe erst ins Bett, wenn ich
einmal gewonnen habe. Mindestens.«
Drei Jahre war Chiara inzwischen verheiratet und lebte mit Domenico
zusammen in der Burg, die sein Vater für sie beide hatte bauen lassen, und fast
jeden Abend spielte sie nach dem Nachtmahl mit ihrem Mann eine Partie Trictrac,
so wie früher mit ihrem Vater. Doch das war nicht dasselbe. Mit ihrem Vater
hatte sie gespielt, weil sie den Wettkampf liebte, das Fiebern um jeden Punkt
auf dem Würfel, um jedes Vorrücken auf dem Spielbrett, um jeden eroberten
Stein, und sie war so ehrgeizig gewesen, dass eine Niederlage sie manchmal
rasend gemacht hatte. Aber jetzt � Obwohl sie Domenico haushoch überlegen war
und ihn nach Belieben schlagen konnte, lieà sie ihn immer wieder gewinnen, nur
um die Abende in die Länge zu ziehen. Bis zu ihrer ersten Blutung hatte ihr
Mann sie nicht angerührt, doch seitdem sie vor einem Jahr, kurz nach ihrem
vierzehnten Geburtstag, zur Frau geworden war und mit der RegelmäÃigkeit des
Mondes nun ihre Tage bekam, vollzog Domenico mit ihr die Ehe in der Hoffnung,
einen Stammhalter zu zeugen. Und jedes Mal litt sie solche Schmerzen, dass sie
am nächsten Morgen kaum gehen konnte und ihre Angst von Mal zu Mal gröÃer
wurde.
Warum tat es nur immer so weh? Ihre Cousinen und Freundinnen hatten
sie bei ihrer Hochzeit um ihren Mann beneidet, der, um sie heiraten zu können,
angeblich sogar auf die schöne und reiche Sabinerin Isabella verzichtet hatte,
das begehrteste Mädchen Roms, das ihm seit Jahren versprochen gewesen war.
»Woran denkt Ihr gerade?«
Domenico hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und schaute sie an.
Mit seinem welligen, dunkelblonden Haar, den leuchtenden braunen Augen in dem
fein geschnittenen Gesicht, das zu keiner Lüge fähig war, sowie der schlanken,
zierlichen Gestalt sah er trotz seiner fast zwanzig Jahre immer noch aus wie
ein groÃer Junge.
»Ach nichts«, sagte sie. »Ich habe nur überlegt, wie ich es anstellen
kann, Euch zu besiegen.«
»Wenn Ihr gewinnen wollt, solltet Ihr besser spielen als träumen.
Ihr seid am Zug.«
»Natürlich!«, sagte sie und würfelte.
»Oh, eine Glücksdrei«, rief er mit gespieltem Entsetzen. »Jetzt wird
es ernst!«
Chiara schaute auf den Würfel. Jede Punktzahl hatte eine bestimmte
Bedeutung, und eine Drei bedeutete die göttliche Dreifaltigkeit â der Spieler,
der das Glück hatte, sie zu würfeln, durfte dreimal ziehen. Fast widerwillig
setzte sie ihren Stein. Ach, hätte sie nur im wirklichen Leben solches Glück â¦
Sie hatte doch alles getan, was Gott und ihr Vater von ihr verlangt hatten,
auch wenn ihr Herz daran fast zerbrochen war. Sie hatte auf Teofilo verzichtet,
obwohl sie seine Frau werden wollte, solange sie zurückdenken konnte, und einen
anderen geheiratet, weil angeblich nur durch ihre Ehe der Friede unter den
römischen Familien gerettet werden konnte â¦
»Himmel und Erde«, sagte Domenico. »Eine Zwei.«
Ohne den Spielverlauf wirklich zu verfolgen, schaute Chiara zu, wie
er mit seinem Stein zwei Felder vorrückte. Was kümmerte es sie, wer gewann? In
dem einen groÃen Spiel, in dem es wirklich darauf ankam, hatte sie längst
verloren, am Tag ihrer Hochzeit ⦠Alle Adelsleute der Stadt und der Campagna
waren der Einladung ihres Vaters gefolgt, Hunderte von Menschen, die kaum in
den Burghof gepasst hatten, waren gekommen, um mit ihnen zu feiern, eine ganze
Woche lang hatte das Fest gedauert. Doch als Chiara durch das Spalier der Gäste
hindurch vor den Traualtar getreten war, an der Hand ihres Vaters, hatte sie
sich gefühlt, als würde sie ihr eigentliches, wirkliches Leben, das die
Vorsehung für sie bestimmt hatte, für immer verlassen, um in ein fremdes,
falsches Leben einzutreten, in dem sie selber stets nur ein Gast sein
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