Der Kinderpapst
»Ich kenne Euch nicht.«
»Abt Bartolomeo schickt mich. Wegen Eurer Gemahlin â¦Â«
»Chiara?« Domenico wurde blass. »Um Himmels willen! Los, sprecht!
Was ist mir ihr?«
»Beeilt Euch!«, erwiderte der Mönch. »Ihr müsst mit mir kommen!
Jetzt gleich!«
15
Wie ein angeschossenes Tier, in dessen Leib ein Pfeil stak,
ohne es zu töten, irrte Teofilo durch den Wald. Er hörte seine Schritte, seinen
Atem, sein pochendes Herz. Doch wo saà der Pfeil, der ihn getroffen hatte? Er
spürte weder die Wunde noch den Schmerz, als wäre ihm alles Fühlen abhanden gekommen.
Nur Chiaras Umarmung spürte er, das Salz ihrer Tränen auf seinen Lippen.
»Adieu«, hatte sie gesagt, und ihn ein letztes Mal geküsst.
Adieu â weiter nichts.
Teofilo merkte erst jetzt, wohin es ihn getrieben hatte. Ohne zu
wissen wie, war er wieder zu der Dornenhecke zurückgekehrt. Warum? Was wollte
er hier? Nachdem Chiara ihn verlassen hatte, war der Ort nur dazu da, dass er
sein Unglück doppelt und dreifach empfand.
Hatte er gerade deshalb hierher zurückkehren müssen?
In der Ferne glitzerte der See. Ich glaube, die
Wassergeister haben uns geholfen ⦠Er hatte gar nicht gewusst, wovon sie
sprach, doch jetzt begriff er, was sie meinte. Während er wieder ihre Stimme zu
hören glaubte, wanderten seine Blicke in die Schwindel erregende Tiefe, die
sich unterhalb des Felsvorsprungs zu seinen FüÃen auftat.
Adieu  â¦
Teofilo schloss die Augen, um ihr Gesicht zu sehen, ihr verzweifeltes
Lächeln, die Tränen auf ihren Wangen, bevor sie zu Boden gesunken war, das Blut
an ihren Beinen ⦠Wie lange war das her? Drei Stunden? Drei Tage? ⦠Er hatte
sie auf seinen Armen nach Grottaferrata getragen. Hätte er sie doch nur bis ans
Ende der Welt tragen dürfen ⦠Beim Abschied an der Klosterpforte hatte sie ihn
noch einmal angelächelt. Jetzt war er allein, Chiara für immer hinter den
kalten dicken Mauern verschwunden.
Was hatte er verbrochen, dass Gott ihn so quälte?
Als er die Augen aufschlug, blickte er in den Abgrund, und plötzlich
spürte er ein Ziehen in den Lenden, ein seltsam schmerzliches Sehnen, das ihn
hinabzog in die Tiefe, wie in Chiaras Armen, so nah vor der Erfüllung.
Ein Schritt, und alles wäre vorbei â¦
Ein Schmetterling flatterte durch die Luft, ein gelber Zitronenfalter,
direkt vor seinem Gesicht, tanzte über dem Abgrund, bunt und unbekümmert, um
sich irgendwo im Himmel zu verlieren.
»Warum? Warum?«
Teofilo schlug seinen Kopf gegen einen Baumstamm, wieder und wieder.
Er wollte, dass es wehtat, wollte den Schmerz seines Körpers spüren, das war
sein einziges Bedürfnis, um nicht länger den anderen Schmerz zu spüren, den
Schmerz, der ihm das Herz zerriss, den Schmerz seiner Liebe â¦
»Warum? Warum?«
Irgendwann war die Taubheit da. Während er nur noch fühlte, dass er
nichts mehr fühlte, hörte er eine Stimme, die er seit ewigen Zeiten kannte und
die ihn doch wie aus einer anderen Welt erreichte.
»Teofilo? â¦Teofilo! â¦Â«
Unwillkürlich drehte er sich um. Vor ihm schnaubte ein
schweiÃbedecktes Pferd und stampfte mit den Hufen.
»Endlich, da bist du ja«, sagte sein Bruder Gregorio und sprang aus
dem Sattel. »Komm. Ich bringe dich zurück.«
Als hätte er keinen Willen mehr, folgte Teofilo ihm nach.
16
Die Krankenstation von Grottaferrata, das so genannte Infirmarium,
war ein durch zwei Säulenreihen unterteilter Saal, in dem rechts unter dem
Bildnis des Schutzheiligen Lazarus die Betten der Männer und links unter dem
Bildnis Maria Magdalenas die Betten der Frauen aufgeschlagen waren. Schwarz verschleierte Nonnen huschten geräuschlos
zwischen beiden Bereichen hin und her, sorgten für die Lagerung ihrer
Schutzbefohlenen, wuschen und badeten und fütterten sie, gaben ihnen zu trinken
oder linderten allzu hitziges Fieber mit kühlenden Umschlägen. Doch so sehr sie
sich bemühten, die Heilkräfte der Natur zu unterstützen: Die eigentliche
Gesundung der Kranken lag in Gottes Hand. Allein der himmlische Vater
entschied, wer zum Leben ausersehen war und wer zum Tod.
Welches Schicksal war Chiara beschieden?
Als sie aufwachte, saà Abt Bartolomeo an ihrem Bett. Im selben
Moment holte die Erinnerung sie ein. Der Abschied von Teofilo, die Verzweiflung
in seinem Gesicht, als sie ihm zum letzten
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