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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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sagte Rolf, er solle jetzt alles ganz genauso machen wie er. Und Alfred tat es. Rolf rubbelte seinen Schwanz mit einer Hand immer hoch und runter, und Alfred rubbelte seinen kleinen, dünnen Schwanz genauso. Er spürte ein angenehm kribbliges Gefühl in der Leistengegend, und ihm wurde wohlig warm, aber das war auch schon alles. Rolf dagegen wurde nach kurzer Zeit immer hibbeliger, rubbelte immer schneller und schließlich schielte er so schrecklich, wie Alfred es noch nie gesehen hatte. Dann gab er einen hohen Laut von sich, als wolle er anfangen zu singen, und spritzte eine schleimig durchsichtige Flüssigkeit in Alfreds Richtung.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Rolf und grinste sehr zufrieden. »Das kommt bei dir auch noch. Du musst es nur immer wieder probieren, und wenn es dann klappt, ist es irre.«
    Alfred fürchtete sich jeden Abend vor dem Moment, wenn er ins Bett geschickt wurde. Dann lag er zitternd da, die Bettdecke bis unter die Augen hochgezogen und beobachtete entsetzt die Schatten, die durch seine Kammer huschten, wenn der Wind die Blätter der großen Kastanie vor dem Haus bewegte.
    Seine Mutter hatte gesagt, der Tod ist ein Sensenmann, der irgendwann kommt und die alten und kranken, aber vor allem die unnützen Menschen köpft. Früher oder später kann ihm niemand entgehen. Wenn man nachts das Käuzchen schreien hört, ist er da, und ein Mensch stirbt.
    Nacht für Nacht hoffte Alfred, dass ihn der Tod nicht finden möge. Und am Morgen ging er in die Werkstatt und guckte, ob die Sense, die die Mutter nach dem Tod seines Vaters von der Wiese geholt hatte, noch an ihrem Haken hing.
    Als Alfred in die Schule kam, begann sein Martyrium. Er war der Versager, der sich alles gefallen ließ und den man nach Herzenslust ärgern konnte. Bereits vor der ersten Stunde kippten ihm seine Mitschüler die Tasche aus, zerbrachen Bleistifte, zerrissen Hefte und klecksten Tinte auf die sauber geschriebenen Hausarbeiten. Sie hielten ihn fest und schnitten ihm die Haare ab, sie versteckten seinen Stuhl, sodass er als Einziger während des Unterrichts stehen musste. Sie nahmen ihm die Schulbrote weg und aßen sie vor seinen Augen auf, rissen während des Sportunterrichts Löcher in seine Hosen und nannten ihn »Blödmann«.
    Alfred ertrug dies alles wehrte sich nicht und sagte keinen Ton. Wartete darauf, dass es ihnen irgendwann keinen Spaß mehr machen würde, ihn zu quälen, so wie es ihm auch nach einer gewissen Zeit keinen Spaß mehr machte, Heuschrecken die Beine auszureißen. Aber er wartete vergebens. Sie hörten nicht auf, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer.
    Pjotr war der Stärkste in der Klasse. Er war mit seinen Eltern aus Weißrussland gekommen, hatte dort bereits die Schule besucht, musste aber wegen der Sprachschwierigkeiten hier in Deutschland noch mal ganz von vorn anfangen. Er war zwei fahre älter als die anderen Kinder, einen halben Kopf größer und auf Grund seines schweren, kräftigen Körperbaus sehr stark. Er hatte rote Haare und eine blasse, fast weiße Haut mit riesigen bräunlichen Sommersprossen, die so groß wie Stecknadelköpfe waren und seinem Gesicht ein albernes Muster gaben. Pjotr war ausgesprochen hässlich und konnte dem Unterricht überhaupt nicht folgen, aber niemand hänselte ihn oder traute sich an ihn heran, denn Pjotr konnte andererseits zuschlagen wie sonst keiner in der Klasse. Und als er merkte, dass dies seine einzige Stärke war, war er immer der Erste, der einen Streit oder eine Prügelei anfing. So war »kaltmachen« auch das erste deutsche Wort, das er lernte.
    Pjotr verachtete Alfred wegen seiner Duldsamkeit, er hatte bei diesem dünnen Hering noch nie eine Träne gesehen, und das reizte ihn.
    An einem Freitag nach dem Unterricht war Alfred noch im Klassenzimmer, um seine Sachen zusammenzusuchen, was bei ihm immer länger als bei den anderen dauerte, da er grundsätzlich langsamer war, immer viel zu viel dabeihatte und all die Dinge einsammeln musste, die von den anderen versteckt worden waren.
    In diesem Moment kam Pjotr herein und schloss hinter sich die Tür. Alfred wusste, dass er in der Falle saß. Vor Angst pinkelte er sich in die Hose und quiekte wie ein Schwein, das wusste, dass es abgestochen wird.
    Pjotr grinste, als er mit langen, langsamen Schritten auf ihn zukam und dem viel Kleineren, der noch nicht einmal weglief, einen Schlag ins Gesicht versetzte. Alfred schluckte den ausgeschlagenen Zahn und das Blut hinunter und war unfähig, sich irgendeine

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