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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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verstehen versuchte, was sie falsch gemacht hatte.
    Aber mittlerweile kannte sie die Spielregeln, hielt sich daran, und alles ging gut. Keine der Ehefrauen wusste von der liebeshungrigen Allora, die so gern die Beine spreizte, um immer wieder ein Stück vom Paradies zu kosten.
    Sie hatte begriffen, dass sie sich ausschließlich an die Männer wenden musste, dabei war es ihr ziemlich egal, an wen. Mit dem Pfarrer aß sie kichernd den Kirschkuchen, den die Witwe Bracchini vorbeigebracht hatte, und wärmte ihm in der Nacht den kalten Rücken, denn die harte Pferdedecke, mit der er sich seit zwanzig Jahren zudeckte, war viel zu schmal. Am Morgen stand sie noch vor ihm auf, kochte die Milch und wusch ihm die Wäsche. Niemand sah sie gehen und niemand sah sie kommen, und Bernardo fragte sie nicht, wo sie die Nacht verbracht hatte. Wenn sie am Sonntagmorgen aus Don Matteos Händen die Kommunion in Empfang nahm, sah sie aus wie die leibhaftige Jungfrau Maria, und ihr Blick war derart in sich gekehrt, dass niemand jemals vermutet hätte, dass sie den Mann, der vor ihr stand, besser kannte als jeder andere im Dorf.
    Mit dem Geologen fuhr sie in einem kleinen Boot auf den Lago Trasimeno, genoss das sanfte Schaukeln des Bootes, trank schweren roten Wein in der Mittagssonne und spielte mit ihrer Zunge auf seinem Körper wie auf einer Klaviatur bis die Sonne hinter den Bergen verschwand. Vom Geologen bekam sie Öl und ein kleines Radio und hörte jeden Abend Musik, bevor sie einschlief.
    Sie war noch genauso allein wie früher, aber sie fühlte sich wie ein Mensch, der die Möglichkeit hatte, jeden Tag Achterbahn zu fahren.
    Es war ein heißer Nachmittag im Mai, als sie mit ihrer Vespa durch den Wald bis zu einer Ruine auf einem Bergkamm fuhr, von der aus man in zwei Täler zugleich sehen konnte. Die Ruine war mit Erika und wilden Brombeeren zugewuchert, und von den Mauern standen nur noch die dem Wetter abgewandten Seiten. Lediglich der hölzerne Rahmen eines Fensters schlug im Wind, der wie durch ein Wunder Jahrzehnte überdauert haben musste. Und in diesem Fenster stand ein Mann.
    Er sah aus wie ein Gespenst. Wie ein Geist, der in das Haus seiner Ahnen zurückgekehrt war. Allora bremste so hart, dass sie fast vorn über den Lenker fiel, und starrte zu ihm hinauf. Der Mann lächelte und verschwand. Allora wartete mit klopfendem Herzen. Nach wenigen Minuten kam er heraus, klatschte in die Hände, um den Staub abzuschütteln, und klopfte sich die Dor nen von der Hose. Er war groß und schön, und durch den Blick seiner eng zusammenstehenden Äugen fühlte sich Allora wie hypnotisiert.
    »Allora«, sagte sie.
    »Hast du Durst?«, fragte Kai. »Ich habe Wasser im Auto.«
    Er ging um das Haus herum zu seinem Jeep, und Allora folgte ihm stumm. Wie eine Marionette, die durch unsichtbare Fäden gezogen wird.
    Er gab ihr eine Wasserflasche, und sie trank hastig und verlegen und bekleckerte ihr T-Shirt, aber die Trockenheit in ihrem Hals blieb. Hier war niemand. Sie waren allein auf der Welt, nirgends eine Frau, die ins Zimmer platzen und einen Tobsuchtsanfall kriegen konnte, und dieser Mann war noch viel paradiesischer als der Bürgermeister, der Pfarrer, der Geometer, der Geologe oder der Baustoffhändler.
    Sie gab ihm die Flasche zurück und starrte auf die rot-schwarz gepunkteten Käfer, die überall auf dem Waldboden herumkrochen, ihr aber noch nie aufgefallen waren. Wie eine unheimliche Invasion.
    Er nahm nur einen Schluck, schraubte die Flasche zu und warf sie zurück auf den Rücksitz.
    »Ich hab dich schon öfter hier in der Gegend gesehen«, sagte er und lächelte.
    »Allora«, meinte sie, drehte sich um und rannte, wie von der Tarantel gestochen, zurück zu ihrer Vespa, sprang auf, startete den Motor und brauste davon. Mit hochrotem Gesicht, wie nach einem 5000-Meter-Lauf.
    Er zuckte lediglich amüsiert die Achseln und stieg in sein Auto. Die Maus hat Angst vor mir, dachte er, die Arme, dabei ist das vielleicht gar nicht so verkehrt.
    Allora hatte keine Angst. Sie fürchtete sich nicht vor dem Paradies. Aber als Kai sie ansah, war sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben ihrer selbst bewusst geworden, sie betrachtete sich plötzlich durch seine Augen und sah ihr wüstes Haar, das noch niemals ein Friseur in Form gebracht hatte, ihr Fleckiges T-Shirt und ihren verblichenen Rock, ihre zerkratzten Beine und ihre verhornten, schmutzigen Füße. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Mund sauber war, und ihre Fingernägel waren zu kurz.

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