Der Klang Deiner Gedanken
ich wohl abgehauen?“
Allie konnte sich nicht vorstellen, ihre Eltern, ihr Zuhause oder Riverside zu verlassen. „Vermisst du deine Familie denn gar nicht? Und die Farm?“
„Die Farm?“ Er säuberte seine andere Schuhspitze. „Da gibt’s nichts zu vermissen. So ein dreckiges, stinkendes, mühseliges Leben. Hab doch gesehen, wie mein Vater auf diesem armseligen Fleckchen Erde sein Leben vergeudet hat. Jedes Jahr hat er gesagt: „Der Herr wird uns versorgen“, und jedes Jahr passierte nichts. Überhaupt nichts. Und dabei bin ich schon 1926 gegangen, lange vor dem Dust Bowl und seinen Sandstürmen. Wer weiß, wie es heute dort aussieht.“
„Schreibst du ihnen nicht?“
„Wieso sollte ich?“
„Wie schrecklich.“ Obwohl ihr die Langeweile zu Hause zusetzte, konnte Allie sich nicht vorstellen, ohne die Ratschläge und die Ermutigung ihres Vaters oder das gemeinsame Kochen und Nähen mit ihrer Mutter auszukommen. „Du hast all die Jahre keinen Kontakt zu deinen Eltern gehabt? Hast du nie das Bedürfnis ...“
„Was soll denn dieses Verhör? Ich weiß ja, dass sich manche Leute bei großer Hitze komisch verhalten, aber können wir nicht über etwas anderes reden?“
„Entschuldige.“ Anstatt eine Gesprächsgrundlage zu finden, hatte sie einen Streit vom Zaun gebrochen. „Du ... redest lieber über die Gegenwart?“
„Die Gegenwart, die Zukunft, ganz egal. Nur nicht über die Vergangenheit.“
Allie stand hier mitten in ihrer Zukunft – neben dem Mann, den sie heiraten würde; auf dem Grundstück, das sie bewohnen würde; vor dem Haus, das sie einrichten würde und mit Kindern füllen, so Gott wollte. Anstelle sich gegen diese Zukunft zu wehren, sollte sie sie mit offenen Armen empfangen. Sie musste eben irgendwie die Vertrautheit schaffen, die sie brauchte. Auch wenn sie mit Walt für einen kurzen, verführerischen Augenblick einfach darin hatte eintauchen dürfen.
Allie ging näher an Baxter heran, um ihre Augen ins Spiel zu bringen. Er reagierte mit einem verwirrten Stirnrunzeln. Sie überlegte, ihm über die Wange zu streicheln, aber die Geste erschien ihr zu aufdringlich. Stattdessen legte sie ihm die Hand auf die Schulter, die sich im Vergleich zu Walts so schmächtig anfühlte.
Natürlich war er schmächtig. Er kam ja auch aus einem armen Elternhaus. Neue Sympathie brachte ein verständnisvolles Lächeln auf ihre Lippen. „Die Zukunft sieht vielversprechend aus, nicht wahr? Wenn J. Baxter Hicks die Tochter vom Boss heiratet, dann hat er gute Aussichten, einmal die Firma zu übernehmen. Die Kinder von J. Baxter Hicks werden niemals die Entbehrungen erleben müssen, die er selbst durchmachen musste.“
Er schaute finster drein. „Kinder.“
Etwas an seinem Blick machte ihr Angst. Als hätte er nie an Kinder gedacht. Ihre Tränendrüsen fingen an, Feuchtigkeit anzusammeln, und es fehlte nicht mehr viel, dann würde sie losweinen.
Siegessicher schob sich einer von Baxters Mundwinkeln nach oben. „Ja. Ihnen wird es an überhaupt nichts fehlen.“
Die Wasserströme zogen sich zurück und Allie konnte wieder lächeln. Sie würde Kinder haben, denen sie ihre Liebe schenken konnte. Und vielleicht würde auch zwischen ihr und Baxter nach und nach Liebe wachsen.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Nummer elf. Wer weiß, eines Tages würde sie vielleicht aufhören zu zählen und auch Walter Novak vergessen.
Baxter schob sie mit zerfurchter Stirn von sich. „Wir sollten zurückgehen. Es wird dunkel.“
Allie nahm ernüchtert die Hand von seiner Schulter. „Ja, du hast recht. Wirklich dunkel.“
* * *
Zu Hause sank sie in einen der weißen Korbstühle. Wie konnte ein kurzer Spaziergang so viel Kraft kosten?
„Ach, Allie.“ Vater durchstöberte einen Stapel Papier. „Ein Brief für dich. Ist irgendwie bei mir gelandet.“
Sie nahm den Briefumschlag entgegen. Kam er von Walt? Wie sollte sie jetzt seine Zuneigung ertragen, wo Baxter sie gerade von sich gestoßen hatte? Erleichtert erkannte sie Dorothy Carlisles abgerundete Handschrift. Das war genau das, was sie jetzt brauchte.
Allie,
ich schreibe Dir nur, weil ich das hier dringend loswerden muss. Betty weigert sich, jemals wieder ein Wort mit Dir zu wechseln, und ich kann es ihr nicht verübeln.
Walt und ich hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber er ist ein guter Mann und hat es nicht verdient, wie Du mit ihm umgegangen bist. Du hättest sein trauriges Gesicht sehen sollen, als ich
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