Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Nummer 4 und 12, nun vollkommen überfüllt waren, blieb drei Männern nichts anderes übrig, als sich auf den Leichnam zu setzen. Tief lagen nun auch diese Boote im Wasser und der raue Seegang warf sie mitleidslos wild hin und her.
Eine der Frauen an Bord überließ Adam ihre Wolldecke, und er dankte es ihr mit einem Lächeln, auch wenn es furchtbar schmerzte, sein eiskaltes Gesicht zu verziehen. Zwei der Heizer und er rückten nahe zusammen und breiteten die Decke über ihren Köpfen aus, sodass sie wie in einem Zelt saßen. Aufseufzend senkte Adam den Kopf. Angenehme Wärme umgab ihn, und zum ersten Mal seit Stunden ließ er die Frage zu, was wohl aus Dylan und Richard geworden war.
Die Carpathia hatte in einiger Entfernung gestoppt, und demnach galt es für die Rettungsboote, in ihre Richtung zu rudern. Irgendwann zog sich Adam, der noch immer erbärmlich zittertet, die Decke vom Kopf und sah sich um. Die Überlebenden in dem Rettungsboot saßen reglos und stumm da, eingehüllt in ihre Atemwolken. Niemand sprach. Er musterte die Frauen und Kinder in ihren hellen Blockschwimmwesten intensiver und las in vielen Augen Verzweiflung und Verlorenheit. Aber in manchen von ihnen entdeckte er durchaus auch neu aufkeimende Hoffnung. Gleichgültig, wie unterschiedlich sie in ihren Charakteren und ihrer Herkunft auch waren, hier, in diesem schwankenden Boot, waren sie alle gleich.
Anschließend betrachtete er die wenigen Männer und vor allem die Frauen an den Rudern, ehe er beschloss, wieder seine Verantwortung als Matrose wahrzunehmen. Er bat darum, an einen der Riemen zu dürfen, und hoffte, dass ihm dabei endlich etwas wärmer werden würde, wobei es sich als ein schwieriges Unterfangen herausstellte, in dem völlig überfüllten und sehr tief liegenden Ruderboot die Plätze zu tauschen. Doch schließlich übernahm Adam den Riemen und pullte kraftvoll. Zwischen ihnen und dem Schiff, das sich jetzt deutlich in einer Entfernung von etwa fünf Meilen abzeichnete, schwammen unzählige Trümmerteile der untergegangenen Titanic. Es handelte sich dabei vor allem um die Stühle von den Promenadendecks, aber auch einige Bruchstücke schlanker Holzsäulen trieben zwischen den Wellen. Dazwischen tanzten verschieden große, im Licht des aufziehenden Tages weiß, blau, gelb und sogar orangefarben schimmernde Eisschollen. Einmal meinte Adam sogar einen hohen, turmähnlichen Eisberg gesehen zu haben, doch als er ein weiteres Mal den Kopf in diese Richtung drehte, war er verschwunden. Vielleicht hatte das farbenprächtige Lichtspiel zwischen Himmel und Wasser seiner Wahrnehmung einen Streich gespielt.
Täuschte ihn auch sein Eindruck, dass sie dem rettenden Schiff kein bisschen näher kamen? Was würde geschehen, wenn es wieder fortfuhr, ehe sie sich bemerkbar machen konnten? Wann würde dann das nächste Schiff an der Unglücksstelle eintreffen?
Norah kniete vor Ella, die sie gar nicht mehr loslassen wollte. Die bedrückende Anspannung der letzten Tage fiel von ihr ab, und sie genoss das Gefühl der Leichtigkeit, das sich in ihr ausbreitete, als habe ein wunderschöner Schmetterling endlich seine harte Puppenschale durchbrochen und tanze das erste Mal in den gleißenden Sonnenstrahlen. Gleichzeitig spürte sie die warmen Tränen der Frau über ihr eigenes Gesicht laufen und sah in die glücklichen Gesichter von Chloe und Catherine. Sie zwinkerte den beiden zu, löste sich endlich aus Ellas festem Griff und stand auf, um ihre schmerzenden Knie durchzustrecken.
Ihr Blick wanderte zu Sean, Katie und Evan, die eng aneinandergeschmiegt in Chloes Bett lagen und fest schliefen.
„Erzähl doch, Norah“, bat Ella.
„Du hättest sie sehen sollen!“, begann Norah und drehte sich lachend zu den drei Freundinnen und der etwas abseits sitzenden Violetta um. „Wie drohende Racheengel standen Mrs O’Sullivan und ihre Schwestern und Cousinen vor Miss Aileen. Sie hatten die Arme vor ihren gewaltigen Brüsten verschränkt und die Haltung von Seeleuten eingenommen, die gegen eine steife Brise gestemmt dastehen …“ Norah nahm die gleiche Körperhaltung ein und kicherte dabei fröhlich.
„Sie wollte wissen, was dir passiert ist, Norah“, unterbrach Catherine sie lachend.
Norah winkte lässig ab. „Das ist nicht so wichtig. Chloes kleine Armee hat dort alles auf den Kopf gestellt. Und dieser Danny!“ Norah lachte herzhaft und kniff Chloe in den fleischigen Unterarm. „Er ist vollkommen begeistert von unserer Chloe und ihrem Einfall.
Weitere Kostenlose Bücher