Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
mehrere Stücke verschiedener Komponisten auswendig. Richard beobachtete die zarte Gestalt, während ihre Finger flink über die Tasten wanderten. Helena spielte mit viel Ausdruckskraft und ihr ausgesprochen temperamentvolles Stück empfand er beinahe als wütend interpretiert. In der jungen Schönheit steckte wohl wesentlich mehr Temperament, als sie in dieser erlesenen Gesellschaft offenbarte.
Helena beachtete den ihr zugedachten Applaus nicht, sondern wandte sich Richard zu, als sei er die einzige Person im Raum. Sofort trat er zum Flügel, bot ihr seine Hand und war ihr beim Aufstehen behilflich.
„Wie konnten Sie mich zuerst spielen lassen, obwohl Sie doch dieses Instrument so viel exzellenter beherrschen?“, raunte er ihr leise zu.
„Sie sind sehr charmant“, erwiderte sie, ebenfalls flüsternd. Ihr lindgrünes Seidenkleid raschelte bei jeder ihrer Bewegungen, und Richard überkam das Gefühl, dass selbst dieses zarte Geräusch für ihn fortan mit der Person Helena in Verbindung stehen würde.
Mrs Andrews gesellte sich zu ihnen und erkundigte sich: „Was halten Sie von dem Flügel, Mr Martin?“
„Ein Meisterstück! Allerdings sollten das zweigestrichene C und das zweigestrichene D gestimmt werden.“
Mrs Andrews bedachte ihn mit einem anerkennenden Lächeln. „Das sagte Claude Debussy vor Kurzem ebenfalls. Sie haben ein gutes musikalisches Gehör, Mr Martin.“
„Es wurde sehr früh und gut ausgebildet.“
„Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, Mr Martin. Dazu gehört auch eine große Portion Begabung.“
Richard bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung für das Kompliment.
In der Zwischenzeit wurde im Hintergrund ein reichhaltiges Büfett aufgebaut, und einer der livrierten Diener ging mit einem silbernen Tablett durch den Saal und offerierte den Anwesenden Champagner.
Richard nahm sich vorsichtig ein langstieliges geschliffenes Kristallglas und blickte sich zufrieden um. Das hier konnte seine Welt werden. Diese Eleganz, der Luxus und die damit verbundene Sorglosigkeit des Lebens – das war es, was er anstrebte.
Sein Blick wanderte zu Helena hinüber, und ihr Lächeln zeigte ihm, dass sie ihn nicht aus den Augen ließ. Vielleicht war er seinem angestrebten Ziel, auf der gesellschaftlichen Leiter ein Stück nach oben zu klettern, bereits näher gekommen, als er noch vor einer Stunde angenommen hatte!
Kapitel 10
Über der Stadt Belfast stand ein großer, fast vollkommen runder Mond, dessen Lichtschein zwischen den eng beieinanderstehenden Häusern nur ab und zu den Boden erreichte. Entsprechend dunkel war es in den verwinkelten, einem Labyrinth gleichenden Gassen des Hafenviertels.
Norah kannte ihren Weg und kümmerte sich nicht um die dunklen, Furcht einflößenden Schatten der aufragenden Häuserfassaden.
Aus manchen Häusern drangen leise Stimmen, und irgendwo, ein paar Straßen weiter, bellte ein Hund. Das Geräusch ihrer Schritte hallte leise von den Wänden der Häuser wider, vor denen sich Schutt und Müll angesammelt hatten, die der brackigen, feuchten Seeluft und dem in der Luft hängenden Gemisch aus Essensdüften und rußendem Holzfeuer eine weitere faulig riechende Nuance hinzufügte.
Die junge Frau bog in eine enge Gasse ein und blieb vor einem windschiefen, heruntergekommenen Haus stehen. Durch die Lamellen der geschlossenen, schief in den Angeln hängenden Fensterläden drang der flackernde Lichtschein einer Petroleumlampe bis zu ihr hinaus. In ihren besseren Tagen war die Tür wohl einmal mit Farbe angestrichen worden, doch diese war im Laufe der Jahre fast vollständig abgeblättert, und die ständig in den Gassen herrschende Feuchtigkeit hatte sich auch hier in das Holz gearbeitet und es fleckig verfärbt. Norah schenkte dem heruntergekommenen Anblick keine Beachtung, zumal es sich bei diesem Haus im Grunde um eines der besseren in dieser Gegend handelte.
Leise klopfte sie an, und nur Sekunden später hörte sie am Knarren der Tür, dass sich jemand von innen dagegenlehnte.
„Wer ist da?“ Die Kinderstimme gehörte unverkennbar dem achtjährigen Sean.
„Norah. Hallo, Sean.“
„Mama, Norah ist da!“, rief der Junge freudig aus, ehe er geräuschvoll den Riegel zurückschob und die Tür weit öffnete.
Sean lief, gefolgt von seiner fünfjährigen Schwester Katie, auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Die junge Frau balancierte sich auf dem schmalen Brett aus, um nicht umzufallen, lachte glücklich und drückte die beiden Kinder ihrer
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