Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Freundin Ella fest an sich.
„Das Baby ist da, Norah, das Baby!“, rief Katie, packte Norah an der Hand und zog sie hinter sich her in die niedrige Küche und von dort in das einzige weitere bewohnbare Zimmer. Ella saß auf dem Bett und an ihrer Brust lag ein winziger, nur in einen groben Baumwollstoff gewickelter Säugling.
„Norah, du bist wieder da?“, fragte Ella mit leiser, rauer Stimme, und ihr warmes Lächeln begrüßte die junge Frau wie eine herzliche Umarmung.
„Seit einer Stunde, Ella.“
„Und dann kommst du gleich zu uns?“
„Ich dachte mir schon, dass dieses kleine Wunder inzwischen angekommen ist.“
Norah setzte sich vorsichtig auf den mit Stroh gefüllten Bettkasten und umarmte ihre Freundin. Dann strich sie dem Säugling behutsam über den winzigen Kopf.
Ella lächelte sie an und reichte ihr das Kind, das Norah sanft entgegennahm. Fasziniert betrachtete sie die geschlossenen, noch wimpernlosen Augen, die kleine Nase und den winzigen Mund des Säuglings.
„Er heißt Evan“, flüsterte Ella, wobei für einen kurzen Moment ein Schatten über ihr Gesicht huschte, der ihre Trauer widerspiegelte.
Sean MacConmara, Ellas Ehemann, war vor ein paar Wochen wie jeden Tag mit der Tram zur Werft hinuntergefahren, an jenem Abend aber nicht zurückgekommen. Seitdem fehlte jede Spur von ihm.
Für Norah war es nach wie vor unverständlich, wie ein Mensch einfach so verschwinden konnte, doch seit bei Harland & Wolff an den beiden großen Schiffen gearbeitet wurde, war die übliche Belegschaft von 6.000 auf 13.000 Mann angewachsen. Die meisten dieser Arbeiter drängten sich zusätzlich in den verwinkelten Gassen entlang der Werft, und dieser Teil Belfasts war beängstigend überfüllt und unübersichtlich geworden – und nicht gerade sicherer.
„Du hast noch immer nichts von Sean gehört?“, hakte Norah leise nach. Auch ihr ging das Verschwinden des immer freundlichen, hilfsbereiten Mannes sehr nahe, zumal er nicht nur eine verzweifelte Frau, sondern auch drei Kinder hinterlassen hatte. Sie litten nicht nur unter dem Verlust des Vaters, sondern rutschten auch zunehmend in eine bedrückende Armut ab. Umso mehr freute es Norah, dass dem bösen Ereignis zum Trotz noch immer Lebensfreude in den Kindern und wohl auch in ihrer Mutter steckte. Mochte die Last und die Trauer noch so groß sein, diese Familie hielt mit Lebenswillen und einem tief verwurzelten Glauben dagegen, wie ein starker Baum, der mit tiefen Wurzeln jedem noch so starken Sturm trotzte, der an ihm riss.
Ella seufzte leise. „Ach, Mädchen. Du hast noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben?“
„Ja! Ich verstehe es einfach nicht.“
„Ich auch nicht, aber wir können nichts tun. Irgendetwas ist Sean zugestoßen, so viel steht fest. Damit müssen wir leben.“
Norah nickte und drückte die bescheidene, stille Ella noch einmal an sich. Sie legte das Neugeborene zurück in die Arme seiner Mutter und zog aus der Tasche ihrer eng anliegenden Kostümjacke eine winzige weiße Baumwollmütze, die sie Evan über den Kopf zog. „Damit du es warm hast, kleines Wunder“, flüsterte sie.
„Oh, Norah, wie schön!“ Ella drückte fest ihre Hand.
„Braucht ihr etwas?“, wollte Norah wissen und zog Katie, die schweigend neben ihr gestanden hatte, auf ihren Schoß. Das Mädchen mit dem feuerroten Lockenhaar kuschelte sich eng an die junge Frau und sah sie mit großen Augen an.
„Nein, Norah. Wir sind versorgt“, erwiderte Ella und lächelte schwach.
Norah nickte und begann das fünfjährige Mädchen zu kitzeln. Quietschend und lachend wand Katie sich in ihren Armen und ergriff schließlich die Flucht. Norah blickte ihr lächelnd nach. „Wie geht es Mia und ihrer Familie? Und Catherine und Chloe?“, erkundigte sie sich bei Ella nach dem Ergehen weiterer Bekannter.
Ella sah sie an, und ein Schmunzeln legte sich auf ihr blasses, schmales Gesicht. „Das darf ich dir nicht verraten, Sternchen. Wir haben eine Übereinkunft getroffen. Niemand verrät dir, wie es den anderen geht, damit du gezwungen bist, alle persönlich aufzusuchen.“
Norah lachte auf, wurde aber schnell wieder ernst. Ihren Kosenamen, „Sternchen“, hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Chloe war die Erste gewesen, die ihn verwendet hatte. Auf Norahs fragenden Blick hin hatte sie ihr damals erklärt, dass Norah bei all ihren vielfältigen, gelegentlich sogar aufreibenden Hilfseinsätzen für die Einwohner im Hafenviertel von Belfast wie ein tröstender, heller
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